Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
zugeben: Seine erste und zutiefst empfundene Reaktion war gewesen, einfach nichts zu sagen.
Aber dann sah er ein, dass er dazu ebenso wenig in der Lage wäre, wie es ihr einfach zu gestehen. Aber er musste es ihr schonend beibringen, so, dass sie ihn danach nicht hassen würde. Ihn und seine ganze Familie. Gleich nach ihrer Rückkehr aus München hatte er sie deshalb in dieser Pizzeria aufgespürt. Er hatte fest vorgehabt, ihr alles zu erklären. Dass es ein tragischer Unfall gewesen sei, die Kurzschlusshandlung eines Unzurechnungsfähigen. Dass seine Eltern erst Jahre später von Xavers Schuld erfahren hatten und es natürlich unverzeihlich sei, dass sie bis heute geschwiegen hatten. Jetzt seien alle Beteiligten tot. Der Mörder hatte sich selbst gerichtet und noch einen Beweis seines Irrsinns geliefert, indem er sogar seine eigene Mutter erschlagen hatte. Immerhin sei das Verbrechen dadurch gesühnt. So in etwa hatte er sich das zurechtgelegt.
Aber ein Blick in ihre Augen hatte ihm gereicht, um seine schön ausgedachte Rede gleich wieder zu verwerfen. Anja würde ausrasten. Sie würde das Grab ihres Vaters suchen. Das war doch logisch. Sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um bis ins letzte Detail alle Einzelheiten des Vorfalls auszuforschen. Und sie würde Alois suchen lassen. Den Mitwisser. Den Mann, der sie über den furchtbaren Verlust hinaus auch noch durch eine jahrzehntelange Ungewissheit gequält hatte. Und warum sollte sie ihm überhaupt irgendetwas glauben? Sie war zwanzig Jahre lang getäuscht und belogen worden. Ihr Verdacht würde sich sofort gegen alle und jeden richten. Nicht nur gegen seine Familie. Und konnte man ihr das verübeln? War es denn glaubwürdig, dass außer Alois und Anna jahrelang niemand die Wahrheit gekannt haben sollte? Seine Eltern hatten schließlich Bescheid gewusst. Und mit jeder Minute, die seit letztem Sonntag vergangen war, war deren Komplizenschaft auf ihn abgefärbt.
Lukas biss so fest die Zähne zusammen, dass sein Kiefer zu schmerzen begann. Und jetzt auch noch das! Ein Massengrab? Alles in ihm bäumte sich bei dem Gedanken auf. Sollte Anja mit dieser irrwitzigen Behauptung möglicherweise recht haben? War Xavers Verbrechen in Wahrheit deshalb vertuscht worden, weil ein zweites, noch weitaus größeres dahinter lauerte? Hatte Xaver nur deshalb überhaupt getötet?
Im Rückspiegel sah er Scheinwerfer aufleuchten. Ein Wagen kam herangefahren. Er war geblendet, daher erkannte er erst im letzten Moment, dass es Anjas VW-Bus war, der an ihm vorbeifuhr. Er sah den roten Rücklichtern nach, bis sie in der Entfernung im Abenddunst verglommen. Er wollte schon den Motor starten, um ihr hinterherzufahren, um sie einzuholen und sie zur Rede zu stellen. Aber da tauchten erneut Scheinwerfer hinter ihm auf. Er wartete, bis auch dieser Wagen an ihm vorbei war. Dann war seine Entschlusskraft bereits wieder erlahmt. Wo fuhr sie jetzt wohl hin? Nach Waldmünchen?
Er spürte, wie aus seinen Achselhöhlen Schweißtropfen über seinen Körper hinabrollten. O Gott. War er denn jetzt ein Teil dieser ganzen Lügen und Geheimnisse? Weil er ein paar Tage lang geschwiegen, gezögert, überlegt hatte? Was würde Anja über ihn denken, wenn sie erfuhr, dass er seit mehr als einer Woche über Xavers Untat Bescheid gewusst hatte?
Er versuchte verzweifelt, in dem Gewirr seiner Gedanken und Gefühle einen roten Faden zu finden, dem er folgen konnte. Anja würde nicht ruhen. Und falls sie tatsächlich recht hatte? Ein Massengrab im Haingries? Der Aufruhr in der ganzen Gegend! Er konnte die Schlagzeilen schon vor sich sehen. Die Schande! Und seine Pläne? Wer würde jemals hier Urlaub machen wollen? In einem Mord-und-Totschlag-Wald.
Wütend schlug er mit der Faust aufs Lenkrad. Am liebsten hätte er losgeschrien. Sie waren ruiniert. Wirtschaftlich sowieso. Und in Anjas Augen würde er auch noch als Komplize von Verbrechern dastehen.
Die Bilder der letzten Nacht traten ihm vor Augen. Selbst das hatte er getan. Er hatte mit ihr geschlafen, ohne ihr zu sagen, was er wusste. Wie sollte sie ihm das jemals verzeihen? Das konnte sie gar nicht. Die Dimension seines Versagens wurde ihm erst jetzt klar. Hatte er wirklich geglaubt, es würde alles zwischen ihnen erleichtern, wenn er erst eine intime Beziehung zu ihr aufgebaut haben würde?
Wie um sich seiner selbst zu versichern, blickte er in den Rückspiegel. Hatte Rupert recht? War er ein gefühlloser, berechnender Opportunist? War die Tatsache,
Weitere Kostenlose Bücher