Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
die in den ersten Stock führte. Der Geruch nach Desinfektionsmittel wurde stärker. Er hielt inne. Was sollte er dort oben? Er erinnerte sich nur zu gut an seinen letzten Besuch vor einigen Wochen, an den deprimierenden Anblick in diesem Zimmer, das Röcheln und Stöhnen der kranken, alten Frau, den Gestank von Reinigungsmitteln und Urin. Wozu sollte er sich das anschauen? Anna hatte wie eine Mumie ausgesehen, ihr Mund war eingefallen, zahnlos. Es war gar kein Mund mehr, dachte er angeekelt. Ein Loch war es. Ein sabberndes Loch in einem röchelnden Stück Dörrobst. Vor sechzig Jahren hätte er sich einen Finger abschneiden lassen für das Privileg, diesen Mund zu küssen. Und jetzt? Was war noch von ihr übrig?
Nein, er würde nicht hinaufgehen. Sie würde daliegen, wie eingewachsen in die verdreckten Laken, umringt von wer weiß wie vielen Flaschen und Ampullen, Pillen und Cremes jeglicher Art, die absolut nichts mehr bewirkten.
Er machte kehrt und ging auf den Vorplatz zurück. Der Hund bellte unablässig weiter. Unschlüssig ließ er seinen Blick über den verwahrlosten Hof gleiten. Wo er hinsah, entdeckte er nur Verfall. Wusste Alois überhaupt, welche Zustände hier herrschten? Und Waltraud? Versorgte die ihre Mutter nicht mehr? War ausgerechnet der depperte Xaver der Letzte, der sich überhaupt noch um sie kümmerte? Aber warum ließ dieser Saukerl hier alles so verwahrlosen? Er ging um den Stall herum zum Hundzwinger. Als der Schäferhund ihn sah, hörte er auf zu bellen. Doch das Knurren, das nun einsetzte, war nicht weniger bedrohlich. Kaum bewegte sich Heinbichler, warf sich das Vieh mit aller Kraft gegen die Drahtgittertür, die nicht besonders stabil aussah. Glücklicherweise lag das Tier auch noch an einer Kette, die ihrerseits an einem Seil befestigt war, die ihm wohl ausreichend Aktionsradius einräumen sollte, um den Hof wirkungsvoll zu beschützen.
Heinbichler hatte genug. Doch im Weggehen fiel sein Blick auf die Stalltür. Sie war angelehnt. Er ging darauf zu. Das zornige Gebell hinter dem Stall schwoll wieder an. Der Türflügel öffnete sich mit einem lauten Quietschen. Heinbichler sah sich um. Das Licht, das durch die Tür hereinfiel, beleuchtete nur den vorderen Teil des Stalls. Er war ewig nicht mehr hier drin gewesen. Die Kühltruhen standen noch da. Er ging ein paar Schritte in den Stall hinein. Die stärkeren Stromkabel, die sie damals verlegt hatten, liefen noch an den Deckenbalken entlang. Jemand hatte kleine Holzkeile unter die Deckel der Kühltruhen geschoben. Er hob einen an, und der Holzkeil fiel polternd in die Truhe hinein. Ein modriger Geruch schlug ihm aus dem schimmligen Plastikinnenraum entgegen. Er befestigte den Keil wieder. Warum standen diese verdammten Truhen noch hier? Sein Blick schweifte durch den Stall. Mittlerweile hatten sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Plötzlich blieben sie auf etwas haften. Da lag etwas. Er ging darauf zu. Allmächtiger! Fassungslos starrte er auf den reglosen Körper. Sein Fuß stieß an einen Gegenstand. Er blickte zu Boden. Da lag ein Spaten. Dunkle Stellen zeichneten sich auf dem Blatt ab. Er begriff erst, als er den Kopf sah, um den herum sich eine dunkle Aureole auf dem Zementboden ausgebreitet hatte. Heinbichler wich zurück und stieß gegen eine der Truhen. Die Konturen des Körpers vor ihm auf dem Boden verschwammen wieder im Dämmerlicht des Stalls. Heinbichler stöhnte auf und stolperte zur Tür, begleitet vom wieder einsetzenden wütenden Gekläffe des Hundes.
9
A nja blickte geistesabwesend aus dem Fenster. Sie hatte Obermüller gebeten zu fahren. Sie fühlte sich nicht dazu in der Lage. Was war ihr da soeben nur zugestoßen? Sie könnte tot sein! Sie wusste, dass sie kreidebleich sein musste. Obermüller schaute beunruhigt zu ihr hin. Sie konnte es aus den Augenwinkeln sehen.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er.
»Ja. Sicher. Ich bin nur müde. Es war ein langer Tag.«
Die Antwort schien ihn zufriedenzustellen. Sie atmete tief durch und versuchte, die Situation zu begreifen. Xaver war kein harmloser Sonderling, wie sie geglaubt hatte. Er war ein gefährlicher Psychopath. Sie musste sofort zur Polizei gehen, ihn anzeigen, melden, was ihr zugestoßen war. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr gelungen war, diese Begegnung zu überleben. Jeden Augenblick hätte er schießen können. Er hatte aus nächster Entfernung auf ihren Kopf gezielt. Warum? Allein einem rätselhaften Überlebensinstinkt war es
Weitere Kostenlose Bücher