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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Sinn, sein entstelltes Gesicht und die Fliegen an seinen Augen. Wie lange hing er schon dort? Sie sah auf die Uhr. Die Uhrzeit! Sie musste die Uhrzeiten notieren. Wann hatte er sie angegriffen? Das musste gegen halb vier gewesen sein. Oder war es vier gewesen? Danach war sie zum Parkplatz gegangen. Sie hatte mit Obermüller eine Zigarette geraucht. Dann waren sie losgefahren. In Kleinbruck hatten sie getankt, waren vielleicht fünfzehn oder zwanzig Kilometer gefahren und dann umgekehrt. Jetzt war es siebzehn Uhr sechsundvierzig. Also hatten sie ihn gegen halb sechs gefunden.
    Das Gelände fiel jetzt leicht ab, und sie konnte bereits ihren VW-Bus am Waldrand stehen sehen. Der Anblick erschien ihr unwirklich, als käme sie aus einer anderen Zeit. Sie ging schwer atmend zum Wagen und öffnete die Schiebetür.
    Ihr war schlecht. Sie griff nach ihrer Wasserflasche und trank gierig. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Das Maisfeld war abgeerntet, die Erntemaschine verschwunden. Aus den weiter entfernt liegenden Häusern drang kein Lebenszeichen. Der Gollashof lag am nächsten. Sie ging direkt darauf zu und klopfte gegen die Haustür. Ein vielleicht sechsjähriges Mädchen öffnete.
    »Ja bitte?«
    »Ist dein Vater oder deine Mutter da?«, sagte Anja atemlos.
    »Nur die Großmutter.«
    »Holst du sie bitte? Schnell.«
    Das Mädchen schloss die Tür. Wenige Augenblicke später öffnete sie sich wieder, und eine ältere Frau trat über die Schwelle.
    »Ja?«
    Es war Traudel Gollas. Trotz der vielen Jahre erkannte Anja sie sofort wieder. Ihre Haare waren grau, die Gesichtshaut faltig und schlaff und mit schweren Tränensäcken unter stumpfen Augen. Ihr Körper steckte in einer sackartigen Hülle, die keinerlei Rückschlüsse auf die darunter befindlichen Formen zuließ. Aber es gab keinen Zweifel, wer da vor ihr stand. Zu wem mochte das kleine Mädchen gehören? Zu Lukas oder zu Rupert? Und wie sollte sie sich jetzt verhalten? Sollte sie sagen, wer sie war und wer dort oben im Wald hing?
    »Entschuldigen Sie bitte die Störung«, begann Anja. »Ich komme vom Forstamt Waldmünchen. Es hat einen Unfall gegeben. Im Wald. Dürfte ich bitte telefonieren?«
    »Ein Unfall!«, rief die Frau alarmiert. »Was ist passiert?«
    Anja warf einen Blick auf das Kind. Waltraud Gollas verstand, nahm es an der Hand und ging ins Haus hinein. »Kommen Sie«, sagte sie im Weggehen. »Hier ist der Apparat. Ich bin gleich wieder da.«
    Anja machte ein paar Schritte in den dunklen Flur hinein bis zu einer Spiegelkommode, auf der ein Telefon stand. Sie griff nach dem Hörer, wählte den Notruf und bemühte sich, leise zu sprechen. Sie erklärte so rasch wie möglich, was geschehen war, und buchstabierte ihren Namen.
    »Faunried … ja, Kreis Waldmünchen. Die Postleitzahl weiß ich nicht. Nein, ich bin nicht von hier …«
    Sie blickte sich suchend im Flur um, ob irgendwo etwas lag oder hing, das diesen Ort näher bestimmen konnte. »Kilometer 124 auf der B23 …«, wollte sie schon sagen, aber da meldete sich die Stimme der Notrufzentrale bereits zurück. »Ich habe es weitergegeben. Ein Wagen aus Eschlkam ist zu Ihnen unterwegs. Er ist in fünfzehn Minuten da. Bleiben Sie, wo Sie sind, und warten Sie, bis die Rettungskräfte vor Ort sind. Kann man Sie zurückrufen?«
    Anja schaute auf das Telefongerät. Es war ein altes Schellackmodell. Die vierstellige Nummer stand mit Tintenschrift auf einem weißen Kartonstreifen, der mit durchsichtigem Klebestreifen auf die Gabel geklebt worden war.
    Sie gab die Nummer durch, legte auf und stand ratlos im dunklen Flur. Die Frau und das Kind waren nirgendwo zu sehen oder zu hören. Sie ging ein paar Schritte weiter und befand sich plötzlich in einer Wohnküche. Auf dem Tisch stand ein wohl vor längerer Zeit begonnenes »Mensch ärgere Dich nicht«. Rot und Gelb spielten. Eine Teekanne stand auf einem Rechaud, ein halb volles Glas Apfelsaft neben der dazugehörigen Flasche.
    »Hallo?«, rief Anja. »Hallo?«
    »Ich komme gleich«, kam es aus dem oberen Stockwerk. Dann hörte sie die Stimme der Frau nur noch gedämpft. Sprach sie auf das Kind ein? Nein. Sie schien zu telefonieren.
    Sie sah nervös auf die Uhr. Obermüller stand seit einer halben Stunde allein dort oben auf der Wildwiese neben einem Erhängten. Sie konnte hier nicht ewig warten. Sie schaute sich befremdet um.
    Diese Küche! Die Querbalken an der Decke, die grünlichen, zerschlissenen Fliesen über der Spüle. In Anjas Erinnerung war das alles

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