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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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zuzuschreiben, dass es ihr gelungen war, ruhig zu bleiben, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Ihr schauderte. Um ein Haar wäre sie tot gewesen. Was für eine Idee hatte sie nur geritten, überhaupt in diese Gegend zurückzukommen? Welch ein Irrsinn!
    Aber genau an dieser Stelle ihrer Gedanken begann plötzlich eine Kette von noch weitaus dunkleren Überlegungen. Stand sie am Beginn einer Erklärung für das Verschwinden ihres Vaters? War Xaver …? Nein. Das konnte nicht sein. Damals war er ganz anders gewesen. Ein Sonderling. Das schon. Aber harmlos. Ihre Eltern hätten niemals zugelassen, dass sie mit einem möglicherweise gefährlichen, geistig zurückgebliebenen Mann spielte! Und sie hatte mit ihm gespielt. Alle Kinder hatten das getan. Xaver war so etwas wie ein Kinderwächter gewesen in Faunried, ein tumber großer Bruder, der keiner Fliege jemals etwas zuleid getan hätte. Sie konnte die beiden Xavers in ihrer Erinnerung überhaupt nicht zueinander ins Verhältnis bringen.
    Es lief ihr noch immer kalt den Rücken hinab, wenn sie an ihn dachte. Dieser irre Blick. Sein verwahrlostes Äußeres. Der Bart, der das Gesicht fast verdeckte, die speckigen, ungewaschenen Haare. Wie ein Landstreicher hatte er ausgesehen. Selbst seine Sprache war verwahrlost, seine Stimme schwer zu verstehen, was früher auch nicht der Fall gewesen war. Xaver hatte normal gesprochen. Langsam vielleicht, so genau wusste sie das nach all den Jahren nicht mehr. Aber jedenfalls nicht so röchelnd, gepresst, so unnatürlich.
    Sie schloss die Augen und versuchte den Verdacht in Schach zu halten, der sich in sie hineinzufressen begann. Doch je stärker sie dagegen ankämpfte, desto unabweisbarer wurde die Vermutung. Sie ergriff so vollständig von ihr Besitz, dass ihr fast schlecht wurde. Hatte Xaver etwas mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun? War dieser Wahnsinn, den sie soeben am eigenen Leib erfahren hatte, schon einmal aus Xaver herausgebrochen, vor zwanzig Jahren, irgendwo dort im Wald? Und hatte ihr Vater nicht das Glück gehabt oder die Geistesgegenwart besessen, ruhig zu bleiben? Hatte er panisch reagiert, und war ihm das zum Verhängnis geworden?
    Anja fror, obwohl sie am ganzen Körper schwitzte. Zur Polizei, dachte sie. Ich muss sofort zur Polizei. Und als sei es des Grauens noch nicht genug, durchfuhr sie plötzlich ein Geistesblitz, der alles Vorausgegangene geradezu ins Monströse steigerte. Die Bodenstörung!
    Ein Schrei entfuhr ihr.
    Obermüller fuhr zusammen. »Aber …«, stammelte er.
    »HALTEN SIE AN!«, schrie sie.
    »Was?«
    »ANHALTEN. Halten Sie sofort an.«
    Obermüller trat verstört auf die Bremse. Der Wagen schlingerte, kam jedoch sicher am Straßenrand zum Stehen. »Was ist denn nur los?«
    »Zurück. Wir müssen sofort zurück«, sagte sie so beherrscht sie nur konnte.
    »Was?«
    »Ich sage Ihnen, dass wir zurückfahren müssen. Los.«
    »Aber warum denn?«
    Statt einer Antwort stieg sie aus, ging um den Wagen herum, öffnete die Tür, schubste Obermüller energisch vom Lenkrad weg und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Obermüller sah sie entgeistert an, wagte aber nicht, zu widersprechen. Anja fuhr, so schnell sie konnte, zurück, lenkte den Bus an den Waldrand, sprang aus dem Wagen, öffnete die Schiebetür und sprang auf die Ladefläche. Obermüller war ebenfalls ausgestiegen und stand, die Hände in die Taschen gesteckt, ratlos auf dem Acker. Anja riss einen Klappspaten aus der Wandhalterung und warf ihn auf die Erde. Als Nächstes öffnete sie die längliche Holzkiste hinter den Sitzen und nahm ihr Jagdgewehr heraus. Obermüller schaute ihr missmutig zu.
    »Also, Frau Grimm, ich weiß ja nicht, was Sie vorhaben, aber …«
    Sie achtete nicht auf ihn, sprang mit einem Satz aus dem Auto, hob den Spaten auf und marschierte los.
    Einen Augenblick lang stand er unschlüssig da. Dann fluchte er, schob die Schiebetür des Wagens so schwungvoll zu, dass der Knall weithin zu hören war, und lief hinter ihr her.
    Sie marschierte so schnell, dass er Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten. Die Sonne stand schräg und schickte ihre letzten, noch leicht wärmenden Strahlen von einem wolkenlosen Himmel herab. Im Wald war es bereits merklich kühler. Feuchtigkeit erfüllte die Luft. Die Farben verblassten. Die Geräusche erstarben. Aber Anja spürte von alldem nichts. Sie folgte einer grausigen Ahnung, die sie jetzt fast mechanisch vorantrieb. Einschlag 25, skandierte eine Stimme in ihr. Diese Bodenstörung. Etwas war

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