Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
immer verstört an.
»Und ein Sanitäter bist du auch.«
»Bergsteiger«, korrigierte er. »Da lernt man Erste Hilfe.«
Sie fuhr sich mit der Hand über ihr schweißüberströmtes Gesicht. »Ich habe ein besonders beschissenes Asthma«, sagte sie dann. »Es kann überall zuschlagen. Jederzeit. Aber mich trifft es meist im Wald. Komisch, nicht wahr?«
Aber Lukas schien gar nichts komisch zu finden.
»Waldasthma«, wiederholte er nur tonlos. »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Und dann willst du ausgerechnet Försterin werden?«
Er half ihr auf die Beine. Sie konnte alleine stehen, aber er hielt sie trotzdem fest, indem er ihr den rechten Arm um die Taille legte und mit dem linken die Zweige der eng stehenden Bäume und Sträucher zur Seite bog, damit sie leichter hindurchkamen. Als sie die Schranke erreicht hatten, gab sie ihm durch einen leichten Druck gegen den Arm zu verstehen, dass sie nun alleine weitergehen konnte. Sie nahm noch eine vierte Ladung des Sprays, bevor sie das Aerosol wieder in ihrem Rucksack verstaute.
»Für alle Fälle«, sagte sie. »Obwohl – dein hausgemachtes Mittel wirkt fast so gut wie Kortison. Nochmals vielen Dank.«
»Du musst das immer dabeihaben? Überall?«
»Ja.«
Sie schwiegen. Anja atmete tief durch und genoss, wie das Mittel ihre Lunge blähte. Ihr Blick fiel auf Lukas’ Hose, die an den Knien dunkel verfärbt und schmutzig war. Er schwitzte noch immer von der Anstrengung und wischte sich mit einem Stofftaschentuch das Gesicht ab. Er hat in mich hineingeatmet, dachte sie fasziniert
»Komm«, sagte sie. »Lass uns von hier verschwinden. Ich bin für heute genug im Wald herumgewandert. Du hast gesagt, in Hinterweiher gibt es ein Café?«
Sie fuhr hinter ihm her bis in den Ort. Sie parkten direkt neben einer Eisdiele und nahmen an einem der Tische im Freien Platz. Obwohl es warm und sonnig war, waren sie die einzigen Gäste. Sie saßen kaum, als Lukas’ Handy klingelte. Das Gespräch dauerte nicht lange.
»Ich muss gleich noch mal weg. Diese Beisetzung ist fast so kompliziert wie eine beschissene Papstwahl. Ein echtes Problem. Bist du katholisch?«
»Nein. Ich bin nicht einmal getauft.«
»Sei froh. Meinen Kaffee trinke ich noch, aber dann muss ich los. Bist du sicher, dass du nicht gleich noch einen Anfall bekommst?«
»Absolut sicher«, beruhigte sie ihn.
»Und seit wann hast du das?«
»Vor zwei Jahren ist es das erste Mal passiert«, sagte Anja, als die Getränke vor ihnen standen. »Irgendwo im Allgäu auf einem Lehrgang. Plötzlich fing es an, einfach so, ohne Vorwarnung. Als sei meine Lunge auf einmal wie zugeklebt. Im Krankenhaus bin ich wieder zu mir gekommen. Die haben mich total durchgecheckt und nichts gefunden.«
Lukas hörte stumm zu, zerriss langsam eine rosafarbene Papierserviette, rollte aus den Schnipseln kleine Kügelchen und sammelte sie in einem unbenutzten Glasaschenbecher.
»Ein paar Wochen später hatte ich den nächsten Anfall. Wieder im Wald. Die Ärzte tippten auf bestimmte Sporen oder Pilze. Du weißt ja, wie das ist. Erst sagen sie, es sei dies, dann ist es das. Mittlerweile haben sie alles durch und mich in die Kategorie eingestuft, wo man die hoffnungslosen Fälle unterbringt. Brittle-Asthma.«
»Was ist das?«
»Eine Art psychosomatischer Lungenkrampf.«
Lukas verzog das Gesicht. »Und warum gehst du dann in den Wald, wenn der Wald dir nicht bekommt?«
Sie zögerte einen Moment. Aber warum sollte sie es ihm nicht sagen? »Ich wollte sehen, ob es hier vielleicht verschwindet. Denn möglicherweise hat es hier angefangen.«
Er fixierte sie skeptisch. »Wieso denn das?«
Sie schwieg einen Augenblick lang, bevor sie hinzufügte: »Irgendwann war ich so verzweifelt, dass ich zu einem Psychologen gegangen bin. Der meinte, es könne durchaus sein, dass die Geschichte mit meinem Vater eine Rolle spielt, dass ich sozusagen ein Waldtrauma habe, das sich in Asthmaanfällen manifestiert. Und da ich nun mal keine Lust habe, mein Leben lang Wälder zu meiden, habe ich mir gedacht, vielleicht passiert irgendetwas, wenn ich an den Ort zurückkehre, wo die ganze Sache angefangen hat. Wenn an der Theorie überhaupt etwas dran ist …«
Lukas’ Gesichtsausdruck drückte inzwischen nicht mehr nur Skepsis, sondern völligen Unglauben aus. »Kann das sein?«
Anja blickte ratlos auf die Tischplatte. »Keine Ahnung. Ich habe die Anfälle mit der gleichen Unregelmäßigkeit wie zu Hause. Wenn es hier seinen Ursprung hat, hat es
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