Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
bei der erneuten Lektüre der Akten gemacht hatte, insbesondere die Liste der persönlichen Gegenstände, die der Verschwundene in seinem Zimmer im Gollashof zurückgelassen hatte. Je öfter er sie las, desto wütender wurde er. Er zückte sein Handy und stand kurz davor, seinen Vater anzurufen. Aber dann besann er sich anders. Nein. Er würde zu ihm fahren. Aber warum saß er dann unschlüssig da? Er stand auf und ging ein paar Schritte hin und her. Er hasste diese Situation. Wäre es vielleicht besser, sich einfach dumm zu stellen? Die Vorstellung, ihn noch einmal zu befragen, ja, ihn zu verhören, war ihm zuwider. Aber dass der Alte ihn derart anlog, empörte ihn. Er sollte ihm wenigstens erklären, warum er damals so geschlampt hatte.
Die Sonne schien, als er Amberg erreichte. Trotz seines Unbehagens hatte Konrad Dallmann die Fahrt genossen. Es war bereits der zweite Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Die Schönheit der Landschaft war überwältigend. Konrad Dallmann schaltete sogar das Autoradio aus, weil die leuchtenden Farben der Felder und Wälder ihn derart gefangen nahmen. Er konnte sich keinen schöneren Ort, keine schönere Gegend vorstellen. Was für ein Glück er gehabt hatte, nach der Ausbildung wieder hier gelandet zu sein. Das war seine Heimat. Woanders würde er verkümmern.
Diesmal war niemand im Garten, als er vor dem Haus vorfuhr. Er ging zur Tür, klingelte, und es dauerte nicht lange, bis er Schritte hörte.
»Konrad?«, rief sein Vater erstaunt aus, als er die Tür öffnete, wobei seine überraschte Miene sofort Argwohn Platz machte, als er die Tasche mit den Aktenordnern vom Vortag entdeckte. »Ah«, sagte er nur.
»Kann ich reinkommen?«
»Ja. Sicher. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Kaffee?«
»Nein, danke. Aber mach nur. Ich leiste dir Gesellschaft.«
Er setzte sich auf denselben Stuhl wie am Vortag. Die Kaffeemaschine brodelte schon. Auf dem karierten Tischtuch standen ein Gedeck sowie Butter, Konfitüre, eine Untertasse mit einem Stück Leberwurst und ein noch eingeschweißtes Stück Hartkäse.
Der Anblick deprimierte Konrad. Warum lebte sein Vater allein? War das richtig? Aber wo sollte er sonst wohnen? In einem Heim vielleicht? Oder bei ihnen?
Gustav Dallmann setzte sich ebenfalls und wartete.
»Mach schon«, sagte Konrad. »Stärke dich erst mal. Wie hast du geschlafen?«
»Stärken?«, fragte er zurück. »Sehe ich so schwach aus? Komm schon, Konrad. Was ist los? Was treibt dich in aller Herrgottsfrühe schon wieder hierher? Nicht dass ich mich nicht über Besuch freue …« Er blickte auf die Tasche mit den Akten. »Immer noch diese Sache?«
Konrad nickte. Gustav Dallmann schüttelte den Kopf. »Na, dann kann man ja beruhigt sein. Wenn ihr Zeit habt, euch mit derart aussichtslosen Altfällen zu befassen, kann nicht viel los sein. Wie schön.«
Konrad legte die beiden Ordner auf den Tisch. »Ich fürchte, wenn wir nicht gut aufpassen, wird diese Sache hier nicht mehr lange ein Altfall bleiben.«
Der Alte zog abschätzig die Mundwinkel nach unten. »Sagt wer?«
»Ich. Ich sage das.«
»Hm. Und wieso? Sag bloß, die Frau hat tatsächlich Anzeige erstattet?«
»Nein. Noch nicht. Aber wenn du mich noch länger anlügst, dann werde ich von Amts wegen neu ermitteln.«
Gustav Dallmann betrachtete seinen Sohn. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht so recht. »Sag mal, willst du mir drohen, Konrad? Deinem Vater?«
»Nein. Ich will dir helfen. Offenbar hast du damals eine ziemliche Dummheit begangen. Ich habe keine Lust, dass man dir auf deine alten Tage ein Verfahren wegen Strafvereitelung und noch etwas Schlimmeres anhängt. Aber noch viel weniger Lust habe ich, deswegen auch selber Ärger zu bekommen.«
Der Alte erhob sich, ging kopfschüttelnd zur Kaffeemaschine, nahm die Kanne von der Heizplatte, kehrte zum Tisch zurück und füllte seine Tasse.
Konrad Dallmann sprach ruhig weiter. »Ich kann mir vorstellen, dass du damals gute Gründe für dein Verhalten gehabt hast. Aber jeder, der diese Akte liest, sieht nun mal leider sofort, dass du entweder nicht ganz bei Sinnen warst oder diese Ermittlungen absichtlich hintertrieben hast.«
»Nicht bei Sinnen …«, sagte Gustav Dallmann ruhig, stellte die Kaffeekanne jedoch geräuschvoll auf dem Tisch ab. »Du nimmst den Mund mir gegenüber ziemlich voll, findest du nicht?«
»Ich hasse es, wenn mich jemand anlügt. Da war ein dringend Tatverdächtiger, und du ordnest nicht einmal eine Hausdurchsuchung an.
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