Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
jedenfalls bisher wenig genützt, herzukommen. Seelische Homöopathie ist wohl ein Mythos.«
»Wieso Homöopathie? Ich denke, du warst bei einem Psychologen?«
»Ja, schon. Aber es ging ja wohl um die Idee, dass man Gleiches mit Gleichem bekämpft, in geringerer Dosierung.«
Lukas schwieg betreten.
Sie lächelte. »Wahrscheinlich ist das alles Quatsch. Es ist doch so lange her. Natürlich denke ich immer an ihn. Er ist bestimmt tot, liegt irgendwo in diesen Wäldern. Was sonst? Aber ich möchte nicht, dass die Erinnerung an ihn mich ausgerechnet aus dem Ort verscheucht, der ihm so wichtig war. Wir waren so oft zusammen im Wald. Er hat das geliebt. Und ich auch.«
»Ja. Das hat er«, pflichtete Lukas ihr bei. »Er hat mich sogar einmal ganz böse angefahren, als er mich beim Namenritzen an einer alten Buche erwischt hat.«
Anja trank einen Schluck von ihrer heißen Schokolade. Das Gefühl des heißen Getränks ließ die Empfindung von Lukas’ Atem in ihr wieder aufleben. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Lukas lächelte unsicher.
»Und?«, fragte sie. »Was wolltest du mir denn so dringend zeigen?«
»Ich wollte deine Meinung hören. Zu meinen Plänen.«
»Was für Pläne?«
»Es geht um den Wald, Anja. Wir können jetzt endlich etwas daraus machen. Solange Xaver noch da war, war das unmöglich. Verstehe mich nicht falsch. Wir sind entsetzt und traurig über dieses Ende, aber bei allem Unglück hat die Sache auch etwas Gutes: Wir können diesen Wald nun endlich nutzen. Und darüber wollte ich mit dir reden. Aber nicht jetzt. Dafür ist es heute zu spät. Du musst nach Hause und dich erholen. Und ich muss jetzt wirklich los. Bis du am Wochenende hier? Nein, Mist«, unterbrach er sich selbst und schnitt eine Grimasse. »Das geht ja gar nicht. Ich muss nach München.«
»Ach, du auch?«
»Wie? Du fährst nach München?«
»Ja. Klassentreffen. Ich hatte ursprünglich nicht vor, hinzugehen. Aber nach dieser Woche bin ich ganz dankbar für eine Abwechslung.«
»Dann kann ich dich ja mitnehmen. Ich muss zum Flughafen. Wo ist denn dein Klassentreffen?«
»Planegg.«
»Oh. Na ja, nicht gerade meine Ecke.«
Sie sah ihn an. »Ich könnte vom Flughafen die S-Bahn nehmen«, schlug sie vor. »Wann fährst du?«
»Gegen acht. Ich hole dich am Samstagmorgen ab, wenn du mir sagst, wo du wohnst.«
Sie dachte voller Unbehagen an Frau Anhuber.
»Ich warte am Forstamt.«
Lukas erhob sich. »Und kann dir bis dahin auch wirklich nichts passieren?«
Sie zog das Atemspray aus der Hosentasche und stellte es demonstrativ neben ihre Tasse. »Keine Gefahr. Transportable Mund-zu-Mund-Beatmung ist in Reichweite.«
Er grinste sie an. Einen Augenblick lang blieb er noch vor ihr stehen. Anja spürte ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend.
»Bis Samstag«, sagte sie rasch und reichte ihm die Hand.
»Bis Samstag, Anja.«
19
D ie junge Frau hatte Eindruck auf Konrad Dallmann gemacht. Umso unbehaglicher fühlte er sich, nachdem sie gegangen war. Sein Kollege Gerlach verkniff sich eine Bemerkung zu seinem Befragungsstil und äußerte sich auch nicht dazu, dass er in Aussicht gestellt hatte, den Haingries untersuchen zu lassen. Aber Gerlachs Blick machte keinen Hehl daraus, dass er sich wunderte, und Dallmann hatte wenig Lust, sich vor ihm zu rechtfertigen. Er wartete, bis Gerlach die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann schlug er die Ermittlungsakten auf und las sie erneut von vorn bis hinten durch. Als er fertig war, war es halb neun. Sein Magen knurrte. Er rief seine Frau an und bat sie, sein Abendessen warm zu halten. Dann fuhr er nach Hause.
Seine drei Kinder schliefen bereits, als er das Haus betrat. Seine Frau machte ihm mimisch von der Treppe herab ein Zeichen, still zu sein, und deutete in Richtung Küche. Die Routine war eingespielt. Er aß allein zu Abend. Kurz bevor er fertig war, setzte sich seine Frau zu ihm. Sie plauderten über den Tag. Dann räumten sie gemeinsam ab. Dallmann war müde. Er ging ins Obergeschoss, küsste die warmen, duftenden Wangen der schlafenden Kinder und ging rasch zu Bett.
Am nächsten Morgen war er bereits um fünf wach. Er stand auf, duschte, machte sich einen Kaffee und setzte sich ins Wohnzimmer an das große Fenster, wo man einen unverstellten Blick auf Felder und in einiger Entfernung auf den Wald hatte. Bisher hatte ihm nur sein Instinkt gesagt, dass etwas nicht stimmte. Inzwischen diktierte es die Logik oder, besser: ihr Fehlen. Er überflog die Notizen, die er sich gestern
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