Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Einiges deutet darauf hin, dass Xaver den Mann ermordet hat, aber du fasst ihn in den Verhören mit Samthandschuhen an. Alibibehauptungen von nahen Angehörigen werden nicht hinterfragt. Abweichende Uhrzeitnennungen kommen natürlich immer wieder vor, aber in dieser Häufung? Die Akten sollen einem weismachen, der Lehrer sei bei einem Wanderunfall ums Leben gekommen, in eine Felsnische gestürzt, wie du gestern schon behauptet hast. Dabei beweist allein das hier, dass dies gar nicht sein kann.« Er hob den Klemmbügel des Ordners hoch, nahm ein Stück Papier heraus und schob es seinem Vater hin. Der warf kurz einen Blick darauf, sagte aber nichts.
»Seine Brieftasche war noch da«, zitierte Konrad die Liste der persönlichen Gegenstände aus dem Gedächtnis. »Ein Taschenkompass. Wanderkarten. Eine Lupe. Notizbücher mit botanischen Aufzeichnungen.«
Gustav Dallmann schwieg. Konrad starrte ihn wütend an. »Johannes Grimm ist am Morgen des 21. August nicht wandern gegangen!«, schlussfolgerte er dann, da sein Vater offenbar keinerlei Neigung verspürte, das Offensichtliche selbst auszusprechen. »Er hat vielleicht einen kleinen Morgenspaziergang gemacht, aber mehr nicht. Keinesfalls war er ausgerüstet, um in Gegenden zu gelangen, wo es Felsnischen oder Schluchten gibt.«
Gustav Dallmann schob ihm das Blatt desinteressiert wieder hin. »Und?«, sagte er nur.
»Und?«, wiederholte Konrad Dallmann gereizt. Sie sahen sich fast eine Minute lang schweigend an. Die Küchenuhr tickte.
Gustav Dallmann senkte als Erster den Blick und begann, in seiner Kaffeetasse herumzurühren.
»Weißt du, was ich morgen tun werde?«, sagte Konrad. »Ich werde einen Bodenradar besorgen und den Haingries absuchen lassen. Und wenn ich dort nichts finde, werde ich den ganzen Leybachwald durchleuchten. Verstehst du?«
»Das wirst du natürlich nicht tun, Konrad«, antwortete Gustav Dallmann ruhig. »Denn du weißt überhaupt nicht, wovon du redest.«
»In der Tat«, entfuhr es ihm, wobei ihm das offensichtliche Eingeständnis seines Vaters merkwürdigerweise keinerlei Triumphgefühl verschaffte, sondern eine Art Scham, die ihn zugleich wütend machte. »Also erkläre es mir bitte«, stieß er mit unterdrücktem Zorn hervor.
»Was soll ich dir erklären, du Grünschnabel? Wie Polizeiarbeit funktioniert?«
Konrad wurde steif. Die Stimmung in der Küche war nun restlos umgeschlagen. Konrad schwitzte und fröstelte gleichzeitig.
»Ja. Wenn du nicht alles vergessen hast, dann versuche es mal«, gab er patzig zurück.
Gustav Dallmanns Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Seine Augen blitzten angriffslustig. Sein Kopf war rosa angelaufen. Er atmete schwerer als zuvor.
»Wir sind Ordnungshüter, Konrad, verstehst du das? Ordnung? Darum geht es in einem Gemeinwesen vor allem. Um Ordnung!«
»Nein. Es geht um Recht und Gesetz.«
»Blödsinn«, erwiderte der Alte scharf. »Das hat schon Goethe vor zweihundert Jahren beantwortet. Vor die Wahl gestellt, einer Unordnung oder einem Unrecht den Vorzug zu geben, entscheidet sich ein Deutscher immer für das Unrecht. Weil alles andere ins Chaos, zu noch mehr Unordnung und damit zwangsweise zu nur noch größerem Unrecht führt.«
Konrad Dallmann war sprachlos. Sein Vater rechtfertigte auch noch, dass er Ermittlungen bewusst manipuliert hatte? Mit schöngeistigen Sinnsprüchen?
»Jetzt räume endlich mal diese idiotischen Akten weg!«, befahl Gustav Dallmann barsch, bevor Konrad etwas erwidern konnte. »Und dann hör mir einmal gut zu, mein Junge. Und wenn ich fertig bin, kannst du mir sagen, was du an meiner Stelle getan hättest.«
20
W ald?«, sagte sie amüsiert und deutete auf die Landschaft jenseits der Autobahn. »Das nennst du Wald? Das ist nichts als eine bessere Zellstoffplantage.«
»Eine was?«, fragte Lukas gleichfalls belustigt zurück.
»Du hast schon richtig gehört. Es ist eine Massenhaltung für Bäume, weder artgerecht noch nachhaltig. Zwischen Jagd- und Holzinteressen bleibt nicht viel Raum für Wald. Aber das ist ja nichts nicht Neues.«
Lukas wies nun ebenfalls auf die bewaldeten Hügel, die sich links und rechts der Autobahn in sattem Grün in alle Himmelsrichtungen erstreckten. »Das nennst du Massenviehhaltung?«, erwiderte er ungläubig. »Diese wunderschöne Landschaft?«
»Ja«, sagte Anja unbeeindruckt. »Eigentlich fehlt nur noch die Märklin-Eisenbahn, die da durchtuckert. Was du dort siehst, hat mit einem echten Wald etwa so viel Ähnlichkeit wie ein
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