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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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riesigen Figuren, eine groteske Mischung aus abstrakter und realistischer Malerei.
    Hinter Carsten hupte jemand. Die Ampel war längst umgesprungen.
    Er gab Gas.
    Im selben Moment drehte der Alte sich um. Die Beschleunigung ließ sein Gesicht zu einem grauen Flirren verschwimmen. Carsten spürte zwei stechende Augen, die zu ihm hinüberstarrten, wie Brandmale auf seiner Haut. Dann blieb die seltsame Erscheinung hinter ihm zurück. Die Wogen des nachfolgenden Verkehrs verschluckten sein Bild im Rückspiegel.
    Carsten spürte ein eigenartiges Kribbeln im Magen. Wer war der Mann? Ein armer Irrer? Ging es ihm nur um die Plakate? Oder gar um das Gemälde? Wo kam er her, und was tat er sonst? Carsten hoffte, dass jemand in der Redaktion Antworten auf seine Fragen wissen würde.
    Er berichtete während der Konferenz von seinem Erlebnis, und schon beim ersten Satz begannen einige Kollegen zu schmunzeln.
    »Der Mann heißt Viktor«, erklärte Michaelis, nachdem Carsten geendet hatte. »Er ist Maler. Das Bild an der Wand stammt von ihm.«
    »Viktor mit Vor- oder Nachnamen?«
    »Sein richtiger Name ist Viktor Hesse. Aber hier in der Stadt, und darüber hinaus, kennt man ihn nur als Viktor. Auch die DDR-Medien nannten ihn so.«
    »Er war einer der bedeutenderen Vertreter sozialistischer Wandmalerei«, meldete sich eine ältere Redakteurin zu Wort. »Sie wissen schon, Werke über den Kampf der Arbeiterklasse, den Sieg des Proletariats und so weiter.«
    Carsten nickte. Ihm war eine Reihe der riesigen Bilder an Tiefentals Häuserwänden aufgefallen. Die meisten waren schauderhaft.
    »Außerdem war Viktor einer der Lieblingskünstler der Staatssicherheit«, fügte die Frau hinzu. »Das war allgemein bekannt.«
    »Und die Bilder hier in der Stadt stammen alle von ihm?«, fragte Carsten.
    Die Redakteurin nickte. »Hier und anderswo«, antwortete sie. »Viktor malte in Leipzig, Dresden, Potsdam, Berlin, jeder größeren Stadt. Er war Dauergast in allen Zeitungen, einige seiner Bilder gelangten sogar in Museen im Ausland.«
    »Und heute? Malt er noch?«
    Michaelis zuckte mit den Schultern. »Sie haben ihn ja gesehen. Manche sagen, er wäre bereits vor der Wende ein wenig wirr gewesen, und die politischen Veränderungen hätten ihm endgültig den Rest gegeben. In meinen Augen ist er ein überdrehter alter Kauz. Viele behaupten, er sei schlichtweg verrückt. Keiner weiß das so genau. Seine Wandbilder wollte nach der Wende niemand mehr haben, deshalb beklebt die Stadt sie mit Plakaten.«
    Carsten runzelte die Stirn. »Kann man daraus keinen Skandal basteln?«
    Die ältere Redakteurin schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Die Leute lehnen Viktor ab. Nicht allein wegen seiner Gemälde und ihrer Motive, sondern vor allem aufgrund seiner Stasi-Kontakte. Eine Positiv-Geschichte über ihn würden uns die Leser übelnehmen.«
    Carsten dachte einen Augenblick nach. »Wie wär's mit einem aktuellen Portrait? Kein Loblied, sondern eine Beschreibung, wie es ihm geht, was er heute macht, wie er die Wende tatsächlich verkraftet hat.«
    Michaelis nickte. »Kümmern Sie sich darum.« Er machte sich eine Notiz und grinste. »Vielleicht schenkt er Ihnen ja eines seiner Bilder – falls Sie Wert darauf legen.«
    Nach der Konferenz blickte Carsten hinüber zu Nina. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und löste ein Kreuzworträtsel. Ihr weites Sweatshirt war mit einem Foto bedruckt: Ein ostdeutsches Mädchen hielt stolz eine geschälte Gurke in die Kamera. Darüber stand in fetten Buchstaben Meine erste Banane.
    Michaelis trat aus seinem Büro an ihren Schreibtisch und reichte ihr auf einem Stück Endlospapier den Ausdruck einer Agenturmeldung.
    »Bringen Sie bitte bei DPA in Erfahrung, wer das geschrieben hat«, bat er. »Wäre schön, wenn Sie mir noch vor dem Essen Bescheid sagen könnten.«
    »Soll ich Sie verbinden?«
    Michaelis schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Fragen Sie einfach nach dem Namen. Ich rufe später zurück.«
    Kurz darauf verließ Carsten die Redaktion. Die gleißende Frühlingssonne hatte seinen Wagen in einen Brutkasten verwandelt, nicht einmal der Fahrtwind konnte die Hitze vertreiben. Als er die Kreuzung erreichte, an der er den alten Mann entdeckt hatte, schwitzte er wie nach mehreren Stunden harter körperlicher Arbeit.
    Viktor war nicht mehr da.
    Es war ihm gelungen, einen Großteil der Plakate von dem Gemälde zu kratzen, ohne dabei die Farben zu beschädigen. Nur ein paar bunte, eingerissene Fetzen, unter denen der Leim

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