Schweigfeinstill
einen. Tränen kullern ihm über die Wangen. Er braucht Zeit. Und Geduld. Und Liebe. Aber die Liebe ist weg. Gina liebt ihn nicht mehr.
15.
Ich wälzte mich hin und her. Wie sollte eine Frau schlafen können, wenn ein Mann wie Nero auf dem Küchensofa pofte? Nicht, dass ich mit ihm ins Bett wollte. Aber wir hätten noch stundenlang reden können, bis in die Morgenstunden. Reden, rauchen, trinken. Ich lächelte in die Dunkelheit hinein, die mir keine Angst mehr einjagte. Dachte an Andy und versuchte mir klarzumachen, wie ich seine Geschichte aufbauen würde. Bei jedem Projekt kommt irgendwann der Moment des Anfangens. Du merkst, jetzt gilt es, loszuschreiben, jetzt sofort. Die Landkarte hat sich im Kopf gebildet, ein Netz aus Wegen und Trampelpfaden, die in verschiedene Richtungen führen, aber irgendwann zusammenfinden werden. Wann das ist, lehrt die Erfahrung.
Seufzend schaltete ich meine Nachttischlampe an und kritzelte unter dem wohlwollenden Blick der ›Zwei Hexen‹ ein paar Stichpunkte auf meinen Block. Ich würde ein Gerüst aus Fakten verfassen, es Andy vorlesen, und er sollte an den passenden Stellen Ergänzungen vornehmen. Das überforderte ihn nicht, denn er musste keine eigene Struktur errichten, konnte sich an den einzelnen Ereignissen entlanghangeln. Meistens begann ich mit der Kindheit des Kunden, aber ich dachte mir, es wäre angemessener, mit Andys Schlaganfall zu beginnen und von dort in Rückblicken sein vorheriges Leben abzuarbeiten. Nachdem ich ein paar Seiten vollgeschrieben hatte, fühlte ich mich erfrischt – und endlich müde genug, um einzuschlafen.
Dienstag
16.
Als ich am nächsten Morgen in die Küche tappte, war Keller fort.
›Danke Ihnen für den Wein, den Kaffee, die Gespräche. Ein Kollege wird sich wegen der Sache gestern melden. NK‹
Du liebe Zeit. NK. Ich legte den Zettel weg, den er auf dem Sofa drappiert hatte. Die ›Sache gestern‹ schien weit weg. Draußen hatte es aufgeklart, es schneite nicht mehr, und eine tapfere Sonne eroberte sich den Himmel. Weit und breit keine Wolke.
Ich genehmigte mir ein Spiegelei zum Frühstück, schob den Gedanken an mein Gewicht weg und machte mich auf den Weg zu Loo und Litz. Die Stallarbeit brachte mich ins Schwitzen, aber ich konnte bei solchen körperlichen Arbeiten gut nachdenken. Über Keller zum Beispiel. Was war das für ein Mann, der auf dem Sofa übernachtete und eine Abschiedsnachricht mit NK unterschrieb? NK. Neuer Kummer. Nützlicher Kommissar. Ich spielte mit den Wörtern herum, während ich Sägespäne einstreute. Müßig, darüber nachzudenken. Ich musste den Glaser anrufen, eine neue Scheibe bestellen, mich bei Juliane melden. Anschließend würde ich endlich wie gewohnt arbeiten. Ich spürte der Vorfreude nach, als ich zum Haus zurückging, Schaufel und Gummistiefel aufräumte und mir einen zweiten, stärkeren Kaffee kochte. Das war schon immer so, ein Geschenk meiner Berufswahl: Ich freute mich auf neue Projekte, auf Texte, die es noch nicht gab, die mir noch fremd waren und doch schon ein Teil von mir. Ich konnte es nicht erklären und hatte es selbst kaum verstanden. Doch der schönste Moment, wenn ich ein Buch oder einen Artikel schrieb, war genau dieser. Wenn es losging. Wenn die Wörter sich zu Garn sponnen, wie von selbst, wenn die Ideen, die Sätze flossen.
Ich wusch mir die Hände, als Juliane anrief.
»Kleines, gibt’s was Neues?«
Sie musste telepathische Fähigkeiten haben. Knapp berichtete ich von dem Anschlag auf mein Küchenfenster. Den Teil der Story, der Nero Kellers Aufenthalt auf meinem Küchensofa betraf, schien Juliane besonders ins Herz zu schließen.
»Also wissen ’Se, nee«, bemerkte sie. »Du solltest ein bisschen besser auf dich und deine Auftraggeber achten. Hör mal. Ich bin zwei Tage nicht erreichbar. Ich besuche Dolly.« Sie diktierte mir die Festnetznummer ihrer Schwester. Juliane besaß kein Mobiltelefon. Handys hielt sie für kapitalistische Tricks, mit denen Großkonzerne in ausbeuterischer Weise ihre Gewinne maximierten.
Ich legte auf und rief Carlo an, um ihn um Rat wegen des zerstörten Fensters zu fragen. Carlo kannte ganze Trupps von Handwerkern in der Gegend. Er versprach, sich zu kümmern.
»Du weißt, mein Zweitschlüssel ist im Schuppen versteckt. Ich muss nachher noch mal weg.« Ich beschloss, demnächst für meinen Ersatzschlüssel einen sichereren Platz zu finden. Man konnte nie wissen.
»Kein Thema, Darling.«
Ach, Carlo, du beste aller Nummern. Ich
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