Schweigfeinstill
genierten oder ertappt fühlten. Bei ihm wuchs die Rötung allmählich vom Hals über sein Gesicht bis zum Haaransatz.
»Ist es schwierig mit den Schwiegereltern?«
»Gina … Probleme.«
»Gina hat Probleme mit ihren Eltern?«
»Ja.«
»Sind ihre Eltern streng?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich … schwierig.«
»Sie haben Schwierigkeiten mit ihnen?«
»Nein!« Er suchte nach Wörtern, die ihm aus dem schalltoten Raum helfen konnten.
»Sie meinen, Ginas Eltern sehen in Ihnen die Schwierigkeit, Andy?«
Er nickte. Ganz hatte ich seine Aussage nicht getroffen. Aber gut genug.
»War das schon vor dem Schlaganfall so?«
Andy wiegte den Kopf.
»Gelegentlich.«
»Sicher leidet Gina auch darunter.«
»Gina …«, begann er. Seine Wangenmuskeln spielten. Er warf mir einen halb zornigen, halb traurigen Blick zu. Ich hatte oft versucht, mir vorzustellen, wie Andys und Ginas Eheleben aussah. Hatten sie Sex? Man konnte sich lieben, ohne zu sprechen. Aber eine Beziehung erforderte Kommunikation und intellektuellen Austausch.
»Gina ist viel unterwegs, oder?«, war alles, was mir einfiel.
»Viel Stadt.«
»Sie ist viel in München unterwegs. Das muss sie in ihrem Beruf.«
Andy schaute seine lahme Hand an.
»Wochenende«, murmelte er.
»Ihre Frau arbeitet auch am Wochenende?«
Er nickte. Wieder dieser trotzige, verschwörerische Blick.
Zum Teufel, natürlich!
Gina arbeitete nicht. Sie hatte eine Affäre. War eine Amour fou des Rätsels Lösung? Hatte Gina einen Liebhaber? Und wenn, hatte er meine Unterlagen gestohlen? Aus Angst, Andy könne von dem amourösen Abenteuer Wind bekommen haben und es mir weitergetratscht haben? Bertram Kugler war tot. War er Ginas Lover gewesen? Unwahrscheinlich. So, wie ich Gina Steinfelder einschätzte, würde sie sich kaum mit einem Dämlack wie diesem Fönfrisierten abgeben.
Andy schaute mich flehentlich an. Aber nicht in einer Weise, als wollte er mich bitten, nicht weiter in ihn zu dringen, sondern er ersehnte weitere Fragen, als könnte meine Stimme aussprechen, was ihn quälte, und ihn so auf Umwegen trösten.
»Arbeitskollegen?«
Er knetete die Lippen. »Mann.«
»Sie trifft einen Mann?«
»Massa …«
Ich zerbrach mir den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht, Andy.«
»Mann. Massa. Apfel… nise. Apfel …«
»Apfelsine«, korrigierte ich ihn automatisch.
»Ja! Riecht Apfelnise.«
Das war typisch für Andy. Er verdrehte die Reihenfolge von Lauten, bemerkte seinen Fehler, konnte ihn jedoch nicht ausbügeln.
»Helfen Sie mir, Andy. Ich habe das noch nicht richtig verstanden.«
Empört griff Andy zu seinem Gehstock, der am Tisch lehnte, und stieß ihn einige Male auf den Boden. Schweiß perlte über seine Stirn. »Mann! Riecht.«
Gina Steinfelder traf einen Mann, der nach Apfelsine roch. Sie traf ihren Liebhaber, ließ sich von ihm massieren und brachte den Duft mit nach Hause.
»Gina hat einen Liebhaber«, sagte ich und beobachtete atemlos Andys Reaktion.
Er schien erleichtert. Ließ den Stock aus der Hand gleiten und legte die gesunde Hand neben seinen Teller.
»Weiß Gina, dass Sie es wissen?«
Er schüttelte den Kopf und sah mich an. In seinen Augen blitzten Tränen.
»Wissen Sie, wer der Mann ist?«
Erneutes Kopfschütteln. Andy war am Ende seiner Kräfte.
»Schreiben«, sagte er und schlug mit der Hand so heftig auf den Tisch, dass der Teller hochsprang.
19.
Ich hockte in meinem Auto und fror vor mich hin. Die enge Straße bedrückte mich. Bogenhausen verschanzte sich hinter Mauern, schmiedeeisernen Torverzierungen, mannshohen Hecken und Videoaugen. Tiefe Stille lag über dem Viertel. Andy lebte in seiner Villa wie ein Gefangener. Ich schämte mich. Bisher hatte ich Andy nicht als Persönlichkeit gesehen, sondern als den armen Kerl, dem ich helfen wollte. Aber dass in ihm eine gehörige Portion Kraft, sogar Aggressivität steckte, und dass Opferrolle und innerer Zorn Teile eines komplexen Charakters waren, zeichnete sich erst jetzt vor mir ab. Jemand, der nicht sprach, schien auf den ersten Blick keine Konturen zu besitzen. Als gäbe es nichts über ihn zu sagen. So viel also zu deiner legendären Menschenkenntnis, Kea. Wahrscheinlich verstand Andy sehr viel mehr als ich von menschlichen Abgründen. Er hatte mehr Zeit, um zu beobachten.
War wirklich die Affäre zwischen Gina und Mister X der Grund für den Datenklau? Eine simple Liebesgeschichte war in der heutigen Gesellschaft kein solches Drama mehr. Wäre eine Beziehung den ganzen
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