Schweigfeinstill
kreisrunden Hornbrille auf der Nase.
Sie standen im Englischen Garten im Gesträuch. Schräg über ihnen ahnten sie den Monopteros-Tempel auf seinem Hügel. Die Geräusche der Stadt waren weggerückt, als habe jemand eine Tür hinter ihnen geschlossen. Nero blickte auf die tote Frau. Sie war nackt und mit ausgebreiteten Armen zwischen zwei Bäume gefesselt worden, ihr Mund mit Paketband verklebt. Eine hauchdünne Eisschicht bedeckte ihren zarten Körper. Die Haut schimmerte bläulich. Einen halben Meter weiter rauschte der Bach. Zapfen und krumme Eisränder hatten sich an den Ufern gebildet, während das Wasser mit umso gebieterischerer Kraft durch das schmale Bachbett rauschte.
»Jemand hat sie mit Wasser besprüht. Das hat ihren Tod beschleunigt. Sie hat definitiv noch gelebt, als sie hier festgebunden wurde. Schaut euch die Spuren am Boden an.«
Nero sah auf den zertretenen Schnee. Die Frau hatte sich gewehrt, vielleicht nach ihrem Mörder getreten.
Freiflug tauchte aus dem Dunkel auf. »Wir haben keine Kleidungsstücke gefunden, keine Tasche, kein Handy, nichts.«
»Eine Abrechnung der Pornoszene?«
»Vielleicht wollte sie aussteigen und sie haben einen letzten Dreh mit ihr gemacht.«
Nero bekam Sodbrennen. Er fror schon jetzt, in Mantel und Stiefeln.
»Wie lange …«, begann er, an den Arzt gewandt.
»… sie durchgehalten hat? Bei ihrem Körperbau … vielleicht zwei Stunden. Schwer zu sagen.«
»Was ist das für ein Kabel?« Nero deutete zwischen die Beine der toten Frau.
»Sieht nach Elektrofolter aus. Das Ding ist festgefroren. Ich muss es mir im Seziersaal anschauen.«
»Sie haben sie bestimmt erst im Dunkeln hergebracht«, sagte Freiflug. »Am Tag ist die Gegend zu belebt. Auch wenn sie sich eine einsame Stelle ausgesucht haben.«
»Finden Sie im Englischen Garten mal eine Stelle, die einsam genug ist für einen Mord. Überall Jogger und Leute mit Hunden«, bemerkte der Rechtsmediziner. »Sie können sie wegbringen lassen.«
»Moment noch.« Nero trat vor, das Foto von Valeska, das Marietta mitgebracht hatte, in der Hand. »Was meinen Sie? Ist das die Frau?«
»Das ist sie«, sagte Freiflug.
»Definitiv«, sagte der Arzt. Er streifte die Gummihandschuhe ab und hielt Nero seine Hand hin. »Lars Klar.«
»Nero Keller.«
»Wurde sie vermisst?«
»Ja. Sie heißt Valeska Keim. Darstellerin in Pornofilmen.«
Die drei machten Platz, damit Valeskas Leichnam weggebracht werden konnte.
»Ihr hört von mir.« Lars Klar packte seine Sachen und stapfte durch den Schnee davon in die Dunkelheit. Nach wenigen Metern war er nicht mehr zu sehen.
»Verdammt.« Freiflug stampfte mit dem Fuß auf. »Wir müssen mehr aus dieser Marietta herauskriegen. Sie muss ihre Freundin identifizieren. Außerdem sollten wir Valeskas Wohnung durchsuchen.«
Neros Handy klingelte.
»Sigrun hier. Die Wohnung in Thalkirchen hat Gina Steinfelder gemietet. Kein Strohmann, nichts.«
»Besorgt euch einen richterlichen Beschluss und geht rein«, bestimmte Nero. »Die Tote im Englischen Garten ist Valeska Keim.«
Freiflug sah ihn von der Seite an, während sie zum Wagen gingen. »Grauenvoll«, sagte er. »Ich verstehe nur nicht, wie sich die Mädchen von der Drohung, Müller würde den Arbeitgebern Filmausschnitte zuspielen, dermaßen einschüchtern lassen konnten. Der Trash ist sowieso im Netz zu sehen.« Er schwieg eine halbe Minute, dann sagte er: »Wobei, wenn der Chef sich in eine Pornoseite klickt und Filme abonniert, wird er sich hüten, dies einer Untergebenen gegenüber auszuplaudern.«
Nero nickte. Er konnte nichts sagen. Nichts über die aufwühlenden Gefühle, die seinen Magen traktierten. Der Anblick des erfrorenen schmalen Körpers hatte in ihm die verzweifelte Sehnsucht geweckt, zu beschützen. Du bist nicht verantwortlich, sagte eine körperlose Stimme in seinem Kopf. Sie könnte von Jassmund kommen, von seinem Therapeuten oder sogar von ihm selbst. Was für ein Quatsch. Natürlich war er nicht verantwortlich, aber er spürte diese unsagbare Qual, dass er nichts hatte tun können. Dass das Schicksal ihm nicht den Zipfel einer Chance eingeräumt hatte. Dass er auf dieser großen Bühne des Lebens nicht einmal als Statist anwesend war, wenn das Entscheidende passierte. Und dass es immer noch niemanden gab, den er in seine Arme hätte schließen können. Obwohl er Kea umarmt hatte, aber das war etwas anderes gewesen. Nur ein Reflex.
Auch Freiflug hatte telefoniert.
»Die Anrufe von Mariettas Handy, die mit
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