Schweine zuechten in Nazareth

Stücks. Wir waren alle versammelt. Mama, die wie ein Weihnachtsbaum aussah. Je älter sie wird, desto mehr Schmuck legt sie an. Jedes Mal, wenn sie lachte, meinte man, Glöckchen zu hören. Annabelle hat mich mit ihrem Erscheinen überrascht. Ich hatte sie eingeladen, wie jedes Mal, aber ich glaubte nicht mehr dran. Sie wirkte niedergeschlagen, aber so viel Sanftmut! Sie ist zu nett, um glücklich zu sein. Jedes normal veranlagte Individuum würde sie zermalmen. Es ist nicht so, dass man sie verletzen möchte, oh nein … Es ist vielmehr wie bei einem Marienkäfer, man lässt ihn von einem Finger zum andern wandern, damit er sein Glück freisetzt, dann reißt man ihm ungeschickterweise ein Bein aus, dann einen Flügel, dann macht man ihn platt.
    Du warst übrigens auch da, lieber Papa. In dem Charakter Robert Étrica. (Ich weiß, du hast ihn immer verabscheut. Das fand ich umso amüsanter.) Das Stück heißt: Schweine züchten in Nazareth . Ich weiß, ich hätte vielleicht einen feinsinnigeren Titel finden können. Aber es verkauft sich gut. Es wird bereits in mehreren Ländern übersetzt, unter anderem in Israel. In einigen Monaten werde ich dort sein. Reicht die Zeit, dir Ein Käfig voller Narren , aber auch Du sollst nicht lieben anzuschauen? Oscar Wilde noch einmal zu lesen? Die Enkelkinder zu beweinen, die du von mir nicht haben wirst? (Andererseits kann sich auch der Marienkäfer darum kümmern.) Und um mit mir zu sprechen, selbst wenn du schreien solltest oder weinen? Ich hoffe doch sehr, dich vor deinem Tod wiederzusehen, oder auch vor meinem.
    Ich verändere mich. Ich werde älter. Ich habe noch alle meine Haare, und sie sind tiefschwarz. Mein Bart hingegen wird immer grauer. Meine Brillengläser sind jetzt noch dicker. Meine Augen werden nicht besser. Man behauptet, es sei charmant. Ja, ganz bestimmt. Wenn man erfolgreich ist, ist alles charmant. Arbeitslos und mit Trifokalbrille auf der Nase würde ich weit weniger Anklang finden. Am Ende werde ich noch blind. Umso besser, mit zunehmendem Alter sollte ich im Hinblick auf das Aussehen anderer Leute keine großen Ansprüche mehr haben, stelle ich mir vor. Ich werde alle schön finden. Ich liebe es, etwas zu hören, bevor ich es sehe. Als ich die Schritte von Laurent hörte, wusste ich, dass ich ihn lieben würde. Und dann habe ich gewartet, dass er mich zurückliebte.
    Was macht eigentlich dein Liebesleben? Gibt es eine gute Freundin? Eine Affäre? Eine alte wiedergefundene Liebe? Oder einfach nur Liebe?
    Ich stelle dir diese Fragen vor allem deshalb, damit du sie dir selbst stellst. Damit du glücklich wirst. Da du mir ja nicht antwortest.
    Ich habe das erschreckende Gefühl, dir seit dieser Stille so nahe zu sein, wie nie zuvor.
    Ich weiß nicht, wie deine Stimme heute klingt. Ich erinnere mich an die, mit der du mir vorgelesen hast, als ich noch ein kleiner Junge war. Die Stimme von Zeraldas Riese . Du wirst damals so alt gewesen sein wie ich heute Morgen,
    David

Annabelle Rosenmerck an Harry Rosenmerck
    Paris, 4. Mai 2009
    Lieber Papa,
    ich stehe noch unter dem Schock des Stücks von David. Es war erschütternd. Du würdest es wahrscheinlich heftig kritisieren, aber, großer Gott, welch eine Liebeserklärung, die er dir damit macht! Es ist so ungerecht, selbst in der Kind-Eltern-Beziehung liebt man die, die einem weh tun.
    Wenn man bedenkt, dass ich große Reden geführt und behauptet habe, dass er seine Inspiration verloren hat! Man kann sagen, dass deine Abwesenheit ihm eine neue Quelle eröffnet hat. Es ist verstörend, zu den Stücken des eigenen Bruders zu gehen und das ganze Räderwerk, wie mir scheint, viel besser zu verstehen als er selbst (David schreibt rein instinktiv). Und vor allem zu wissen, dass er einer der wichtigsten Autoren unserer Zeit ist.
    Gestern haben wir seinen fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Wir waren an die zwanzig Leute. Alle unsere alten Freunde waren da, einige von ihnen mit ihren jungen Frauen. Der Soussan-Sohn, die dicke Delphine, der »Rattenfänger«, der Aktienhändler geworden ist und eine hübsche Belgierin geheiratet hat! Joséphine, die erste Freundin von David, immer noch ein Knaller und ledig … Kurz und gut, wir hatten Spaß.
    David hat eine kleine Ansprache gehalten, in der er eine witzige Bemerkung über dich machen wollte, aber ich sah, dass sein Lächeln eine