Schweinehunde / Roman
seinem Beruf war das Klettern seine große Leidenschaft, und die hat ihn das Leben gekostet. Der Aconcagua hat ihn mir genommen.«
Sie blickte fragend auf, und Poul Troulsen nickte. Er vermutete, dass der Aconcagua ein Berg war, wollte sie aber nicht mit einer Frage unterbrechen.
»Das letzte Jahr war ich allein mit den Kindern, die sind übrigens auf einer Hüttentour.«
Sie schien offensichtlich am Ende angekommen zu sein. Die gestresste Miene, die sie aufsetzte, als sie auf ihre Uhr blickte, wirkte etwas übertrieben, und Poul Troulsen ignorierte sie und gab ihr stattdessen ein Stichwort: »Helene und Per Clausen?«
Sie trank ihren Kaffee aus und goss sich gleich einen neuen ein, dann fuhr sie hastig fort: »Helene Clausen war, wie gesagt, die Freundin meiner kleinen Schwester. Meine Schwester heißt Katja, Katja Mosberg, und sie wohnt in Österreich. Ihr Lebensgefährte ist norwegischer Diplomat. Er ist im Auftrag des norwegischen Außenministeriums dort. 1993 ist Helene in Katjas Klasse gekommen. Sie kam aus Schweden, wo sie ein paar Jahre mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater gelebt hat. Helene war schüchtern und introvertiert, aber sie und Katja sind gut miteinander ausgekommen, und sie waren ziemlich viel zusammen. Unter anderem haben sie auch oft gemeinsam ihre Hausaufgaben gemacht und sich dabei gegenseitig unterstützt. Helene war ein Genie in Mathe, Physik und Chemie, in allem, was auch nur im Entferntesten mit Naturwissenschaften zu tun hatte. Dafür war sie schlecht in Dänisch, bestimmt wegen der vielen Jahre in Schweden. Katja war das genaue Gegenteil, sie war gut in Dänisch und schlecht in Mathematik. Letzteres liegt leider in der Familie, und das war eigentlich auch der Grund, weshalb ich Per kennengelernt habe, denn als Katja und Helene in die neunte Klasse gingen, hatte ich gerade mein Medizinstudium angefangen. Mein mit Abstand schlechtestes Fach war Mathematik. Während all meine Kommilitonen Angst vor Anatomie oder den anderen traditionellen medizinischen Fächern hatten, lief ich Gefahr, mein Studium wegen eines Grundkurses in Statistik aufgeben zu müssen, noch bevor es richtig angefangen hatte. Ich kapierte das alles irgendwie nicht, und noch heute wird mir schon beim Klang der Worte Regressionsanalyse oder Signifikanzniveau schlecht.«
Sie lächelte, als wollte sie sich für ihre Schwäche entschuldigen. Poul Troulsen dachte, dass es ihm – sollte er jemals Herzprobleme bekommen – reichlich egal sein würde, ob sein Chirurg sich auf Wahrscheinlichkeitsrechnung verstand. Wieder blickte sie auf ihre Uhr, dieses Mal allerdings ohne ihren Zeitdruck an die große Glocke zu hängen. Troulsen war sich im Klaren darüber, dass der Zeitdruck noch ein Problem für ihn werden würde.
»Katja hat mit Per über mich gesprochen, sie war sehr umtriebig, wollte immer alles für andere regeln, aber in diesem Fall ist ihr das tatsächlich gelungen. Per war sehr froh über die Freundschaft zwischen Katja und Helene, außerdem war er ein netter Mann, der gerne half, wenn er konnte. Ich nahm also Nachhilfe bei ihm. Ein bis zwei Abende pro Woche, und das für umsonst. Von Geld wollte er nie etwas hören. Dabei war mein Vater immer sehr großzügig, wenn es um das Wohl seiner Töchter ging. Aber damals verdiente Per ja auch noch ganz gut.«
Sie schüttelte den Kopf und korrigierte sich: »Nein, die letzte Bemerkung kann ich so nicht stehenlassen, Per hätte kein Geld von mir genommen, auch wenn er arm wie eine Kirchenmaus gewesen wäre. Das hätte einfach nicht zu ihm gepasst, er war einfach hilfsbereit.«
Poul Troulsen spürte, mit welch warmen Worten die Frau über ihren Nachhilfelehrer sprach. Nicht zum ersten Mal wurde Per Clausen positiv beschrieben. Er musste einen großen Einfluss auf sein Umfeld gehabt haben.
»Nun, dank ihm habe ich meine Prüfung letztendlich mit einer gar nicht so schlechten Note bestanden, wofür ich Per noch immer dankbar bin. Dann kam der Sommer mit dem Autounfall, und später starb Helene, aber das wissen Sie ja. Katja und ich waren vermutlich die Einzigen, die den Hintergrund kannten und wussten, dass es vermutlich kein Unfall, sondern Selbstmord war. Und Per natürlich auch, aber das habe ich erst ein paar Jahre später erfahren.«
Sie blickte auf und sah ihm in die Augen.
»Sie wissen doch, dass Helene von ihrem Stiefvater missbraucht worden ist?«
Poul Troulsen nickte, und sie fuhr fort: »In den Jahren danach habe ich Per nicht mehr gesehen. Ich habe zwar
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