Schweinehunde / Roman
vielbeschäftigter Mann, und Anni Staal musste seine Entschuldigungen ein ums andere Mal schlucken und darauf hoffen, dass es beim nächsten Mal klappte. Es wurde spät, bis es endlich so weit war.
Im Konferenzraum waren neben Anni der Chefredakteur und die neue Hausjuristin anwesend. Die Leinwand am Ende des Tisches zeigte einen Computerbildschirm, auf dem unten rechts in der Ecke die Uhrzeit zu erkennen war, 22.41 Uhr. Eine Handvoll Sandwichs kämpfte auf einem Metallteller, der zwischen den drei Anwesenden stand, einen aussichtlosen Kampf gegen das Eintrocknen und vermochte niemanden zu locken. Der Chefredakteur hebelte mit seinem Feuerzeug einen Kronenkorken von einer Flasche Pils. Anni Staal nickte zustimmend, und er öffnete eine weitere und reichte sie ihr über den Tisch. Dann sprang die Tür auf, und ein Mann Anfang sechzig hastete herein. Der Direktor warf seinen Mantel auf einen Stuhl und setzte sich. Er grüßte in die Runde, während auch er sich ein Bier nahm und – im Gegensatz zu seinen Mitarbeitern – ein Plastikglas, das er ins Licht hielt und genauestens inspizierte, bis er sich irritierend langsam eingoss. Erst als das Glas voll war, sagte er: »Entschuldigen Sie die Verspätung, aber es war nicht leicht für mich zu kommen, und um es gleich zu sagen, Anni, Sie müssen schon einen verdammt wichtigen Grund haben, mich hierher zu bestellen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal in eine Sitzung bestellt worden bin, ohne die Tagesordnung zu kennen, und ganz sicher nicht um diese Uhrzeit.«
Anni Staal vergeudete keine Zeit.
»Entscheiden Sie selbst. Heute Nachmittag habe ich eine Mail von einer Person erhalten, die sich
Chelsea
nennt. Ob sich das auf einen Mädchennamen, einen Stadtteil oder den Fußballclub bezieht, weiß ich nicht.
An diese Mail war ein Video angehängt. Der Film dauert etwa zehn Minuten und besteht aus zusammengesetzten, kurzen Sequenzen, was man relativ schnell erkennt. Dafür muss man kein Profi sein. Montag habe ich von der gleichen Person schon einmal eine Mail bekommen, auch mit einem Video, der ich zu dem Zeitpunkt allerdings bedauerlicherweise keine Bedeutung beigemessen habe. Wir sehen nun erst den Montagsfilm, er ist nur wenige Sekunden lang.«
Niemand der Anwesenden sagte etwas, und Anni Staal startete das Video.
Das Gesicht mit dem abschätzenden Gesichtsausdruck und dem viel zu roten Mund füllte die Leinwand.
»Die Aufnahme stammt aus einem Fahrzeug, vermutlich einem Bus. Ich glaube nicht, dass die Person weiß, dass sie gefilmt wird«, sagte Anni Staal.
Eine tonlose Stimme fragte über den Lautsprecher:
»Nun, wie sieht es aus? Keine Ware spricht die Herren an?«
Die Miene des Mannes blieb ein paar Sekunden lang unverändert und nahm dann einen abgeklärten Ausdruck an. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und sagte lachend:
»Dann schnappe ich mir den kleinen Kerl mit der Nummer drei.«
Der Film hielt inne, während die Worte noch eine Weile in der Luft hingen, bis sie sich gesetzt hatten.
Der Plastikbecher des Direktors ging kaputt, er hatte ihn in Gedanken zu sehr zusammengedrückt. Das Bier rann über seinen Arm und tropfte auf ein Hosenbein, bis er sie alle mit seiner Reaktion erlöste: »Verflucht, was für eine grausame Schweinerei!«
Die Juristin eilte mit ein paar Servietten zu ihm, wurde aber mit einer Handbewegung verscheucht. Sein Ausruf hatte nicht dem Bier gegolten, und seine nassen Kleider schienen ihm egal zu sein, er wechselte aber den Stuhl. Keiner der Anwesenden hatte ihn zuvor fluchen gehört.
»Wissen Sie, was er sich da anschaut?«, fragte der Chefredakteur Anni Staal.
»Nein, aber das kann man sich doch eigentlich denken.«
Der Direktor fauchte: »Eine Speisekarte, auf der Kinder angeboten werden.« Er zeigte auf die Leinwand, auf der das Gesicht des Mannes noch immer eingefroren war. »Machen Sie ihn weg, Anni. Ich halte diesen Typ nicht länger aus.«
»Dann sollte ich Ihnen wohl zeigen, was aus ihm geworden ist.« Auf der Leinwand war erneut das Gesicht des Mannes zu erkennen. Jetzt stammte die Aufnahme aber von einer Handkamera, die Qualität des Films war schlecht, und die Bilder waren mitunter unscharf. Manchmal verdeckte eine diffuse, weiße Fläche die Szenerie. Zeigte die Kamera nach unten, was hin und wieder geschah, sah man, dass der Mann nackt war und seine Hände vermutlich auf dem Rücken gefesselt waren. Auf seiner Wange und auf seiner Schulter war angetrocknetes Blut, und um seinen Hals lag
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