Schwere Wetter
Selbstbetrug, doch sie half ihr jedesmal, wenn Martha vorbeigehumpelt kam, sie angrinste und in ein Gespräch zu verwickeln versuchte.
Das Schweigen war für Jane wirklich schmerzhaft und schwierig gewesen. Es war wie ein Drogenentzug. Wie Fasten. Wie ein Marathonlauf. Es hatte sie innerlich stark verändert.
Innerhalb der Gruppe war es kein Geheimnis, daß sie sich heftig für Jerry interessierte, und sie merkte, daß er davon wußte und daß er in Versuchung war. Er hatte sie in die Gruppe aufgenommen. Er hatte ihr Verantwortung übertragen. Er hatte sich ihre Ratschläge und Kommentare immer höflich angehört. Aber er hatte sorgsam darauf geachtet, Abstand zu halten.
Jerry war in Versuchung, aber die Versuchung war nicht stark genug. Das war der wahre Grund, warum er sie vor die Herausforderung gestellt hatte. Wie alles, was Jerry Mulcahey wirklich interessierte, war die Versuchung subtil, schwierig und mit großen Risiken behaftet. Die übrigen Gruppenmitglieder mochten sie als Bestrafung auslegen, doch Janey wußte es besser: es war ein ganz persönliches Auf-die-Probe-Stellen, und es ging um Sieg oder Niederlage. Jerry wollte, daß sie ihm ein ernsthaftes Versprechen gab und daß sie es brach. Als Vorwand dafür, sie höflich aus seinem Leben hinauszudrängen. Darum war sie nicht drum herumgekommen, die Verpflichtung einzugehen.
Jane hatte ihr Versprechen jedoch nicht gebrochen. Sie hatte es gehalten. Natürlich hatte sie niemandem aus der Gruppe davon erzählt. Sie war einfach aus dem Zelt hinausspaziert und hatte den Mund gehalten. Bei dem engen Zusammenleben waren die anderen allerdings sehr bald dahintergekommen. Ihr Schwur war eine schwere Bürde für sie gewesen, hatte jedoch eine tiefgreifende und erstaunliche Wirkung auf die anderen Trouper gehabt. Auch schon vorher hatten sie ihr grollend Respekt gezollt, ihr allerdings keine offene Sympathie entgegengebracht. Sie wußten, daß Jane die Hölle durchmachte, und griffen ihr unter die Arme. Als die Schweigewoche zu Ende ging, behandelten die Trouper sie zum erstenmal so, als gehörte sie wirklich dazu.
Und hinterher wurde zwischen ihr und Jerry bald alles mega-anders.
»Okay, er ist ohnmächtig geworden«, jammerte Rick. »Der harte Survivaltyp ist er jedenfalls nicht. Aber hast du gewußt, daß er ein Kannibale ist?«
»Was?« entfuhr es Jane.
»Yeah, er hat damit geprahlt, er hätte Menschenfleisch gegessen! Nicht, daß ich persönlich etwas gegen Kannibalismus hätte…« Rick zögerte und suchte nach Worten. »Weißt du, der Junge hat was. Er ist ein häßlicher, schlaksiger, verrückter kleiner Typ, aber ich glaube, bei dem läuft was. Ehrlich, irgendwie mag ich ihn!«
»Also, er kann unmöglich Menschenfleisch gegessen haben«, sagte Jane. »Er ist doch erst zwanzig. Na ja, einundzwanzig.«
»Shit, wir wußten doch alle, daß er uns verarscht! Aber deshalb mußten Peter und ich ihn halt ein bißchen durch die Mangel drehen. So was lassen wir nicht mit uns machen! Oder? Und wenn er tausendmal dein Bruder ist. Komm schon, Janey!«
»Na ja, er ist mein Bruder, Rick, da hast du verdammt noch mal recht.«
Rick klappte den Laptop heftig zu. »Na ja, du kannst ihn nicht immer beschützen! Die Truppe ist schließlich kein Kindergarten! Wir machen hier draußen Jagd auf Tornados! Warum hast du deinen Bruder eigentlich hergebracht?«
»Na ja«, meinte Jane bedächtig, »kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
Rick machte ein langes Gesicht. Er blickte sie wachsam an. »Worum geht's?«
»Ich bin pleite, Rick. Und Alex nicht.«
Rick schnitt eine Grimasse. Sie hatte das Thema Geld angesprochen; das absolute Tabu der Truppe. Ricks rundlichem, verstoppeltem Gesichtsausdruck nach zu schließen, schien er wahre seelische Qualen zu durchleiden. Sie hatte gewußt, daß es ihm vor Verlegenheit die Sprache verschlagen würde.
Jane blickte versonnen zu der Zwanzigtausend-MeterGewitterwolke hinaus, die vor ihr am Horizont aufragte, und fragte sich, ob es wohl jemals eine Zeit gegeben hatte, in der man sich seines Reichtums nicht hatte zu schämen brauchen. Vielleicht damals, bevor die schweren Unwetter angefangen hatten, als es auf der Welt noch ruhig und geordnet zugegangen war. Bevor die ›Informationswirtschaft‹ genau wie zuvor der Kommunismus nach hinten losging und ihren gierigen, fanatischen Erschaffern um die Ohren flog. Als es noch stabile und funktionsfähige nationale Währungen gab. Und Banken, die einzelnen Ländern gehörten und die
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