Schwere Wetter
Jerrys Bruder jetzt zum ersten Mal. Leo wirkte älter als Jerry, seine Wangen waren schmaler und ein wenig faltig, und sie war überrascht, wie gut er aussah. Sein Kopf war genauso geformt wie der von Jerry, aber sein Haarschnitt war phantastisch. Normalerweise schnitt Jane Jerry das Haar, doch jetzt sah sie, daß sie als Hairdesigner ein totaler Versager war.
»Wie ich höre, hast du mit Mom gesprochen«, sagte Leo.
Jane nickte schweigend, aber Leo konnte sie natürlich nicht sehen. »Ja, hab ich«, platzte sie heraus.
»Ich halte mich im Moment gerade wieder in den Staaten auf. Mom hat mich über Jerrys Aktivitäten unterrichtet.«
»Ich hab mir nichts dabei gedacht«, sagte Jane. »Jerry ruft seine Mutter nur ganz selten an, aber er hat nichts dagegen, wenn ich es tue… Tut mir leid, wenn ich aufdringlich gewesen sein sollte.«
»Ach, Mom hält große Stücke auf dich, Juanita«, sagte Leo mit einem Lächeln. »Weißt du, Mom und ich haben Jerry noch nie so erlebt. Ich glaube, du mußt etwas ganz Besonderes sein.«
»Na ja«, meinte Jane. »Leo, mir ist grad was eingefallen - ich habe hier ein paar Fotos auf Platte, ich schau mal, ob ich sie aufrufen und dir schicken kann.«
»Das wäre nett.« Leo nickte. »Ist immer so ein komisches Gefühl, zu einem leeren Bildschirm zu sprechen.«
Jane rief das digitale Sammelalbum auf. »Ich wollte dir noch dafür danken, daß du mir geholfen hast, meinen Bruder zu finden… Alejandro.«
Leo zuckte die Achseln. »De nada. Ich habe für dich einen Hebel in Bewegung gesetzt. Na ja, zwei Hebel. Das ist halt Mexiko… eine Hand wäscht die andere… Ein interessanter Ort, eine erlesene Kultur.« Er senkte abermals den Blick. »Ah, ja. Das kommt sehr gut rüber. Ein hübsches Foto.«
»Ich bin die mit dem Hut«, sagte Jane. »Die andere Frau ist unsere Köchin.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Leo und richtete sich gespannt auf. Er wirkte ernsthaft interessiert. »Oh, das mit dir und Jerry ist sehr gut. Ich wußte gar nicht, daß er einen Bart hat. Aber der Bart steht ihm gut.«
»Er hatte den Bart schon, als ich ihn kennengelernt habe«, sagte Jane. »Tut mir leid, daß es… äh… na ja, daß es so lange her ist. Und daß ihr nicht besser miteinander auskommt.«
»Ein Mißverständnis«, meinte Leo, seine Worte sorgsam abwägend. »Du weißt ja, wie Jerry manchmal ist… sehr zielstrebig, hab ich recht? Wenn man dann ein Thema anspricht, das nicht ganz in seine Gedankengänge paßt… Er ist natürlich ein sehr intelligenter Mann, aber er ist Mathematiker und nicht sonderlich tolerant gegenüber Mehrdeutigkeit.« Leo lächelte traurig. Er hat eine gewisse Würde, dachte Jane. Jerrys magnetische Ausstrahlung und die gleiche Skrupellosigkeit.
Sie fand ihn äußerst attraktiv. Geradezu umwerfend. Sie konnte sich mühelos vorstellen, mit ihm zu schlafen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, mit beiden zu schlafen. Gleichzeitig.
Und wenn sie sich gegenseitig an die Kehle gingen, würde sie zwischen ihnen zerquetscht werden wie eine Maus zwischen zwei Ziegelsteinen.
Sie räusperte sich. »Also… kann ich irgend etwas für dich tun, Leo?«
»Doch, ich glaube schon«, antwortete Leo. »Übrigens, du hast doch nichts dagegen, wenn ich die Fotos ausdrucke, oder?«
»Von mir aus.«
»Es geht um diese komische Geschichte mit dem F-6«, sagte Leo, während sein Drucker ein wohlerzogenes Brummen von sich gab. »Ich hab mir gedacht, du könntest mir das vielleicht etwas näher erklären.«
»Na ja«, meinte Jane, »der F-6 ist so eine Theorie von Jerry.«
»Klingt irgendwie alarmierend, findest du nicht? Ein Tornado, der eine ganze Größenordnung größer ist als alles, was wir bisher erlebt haben?«
»Also, eigentlich wäre das gar kein richtiger Tornado - eher ein gewaltiger Wirbelsturm. Etwas kleiner als ein Hurrikan, aber mit einer anderen Entstehungsgeschichte und einer anderen Struktur. Und einem anderen Verhalten.«
»Stimmt es, daß dieses Ding zu einem permanenten Bestandteil der Atmosphäre werden soll?«
»Nein«, entgegnete Jane. »Nein. Ich meine, es gibt da schon einige Hinweise in den Modellen - wenn man die Parameter entsprechend wählt, deutet… äh… einiges darauf hin, daß ein F-6 unter bestimmten Umständen zu einer dauerhaften Einrichtung werden könnte… Sieh mal, Leo, wir heben diesen Aspekt nicht besonders hervor, okay? Es wimmelt doch nur so von abgedrehten Amateuren, die ihre selbstgebastelten Klimamodelle laufen lassen und alle
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