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Schwerelos

Schwerelos

Titel: Schwerelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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könnte ich bei jeder beliebigen Abfahrt rausfahren und ein anderes Leben beginnen. Alles hinter mir lassen, abbiegen, neu anfangen, jemand anders sein, oder ganz ich selbst, je nachdem, was mir gerade abenteuerlicher erscheint.
     
    «Rosemarie! Duuuu nur du!»
     
    Küppi Kanak schmetterte meinen Namen hinaus in die Nacht und lachte zwischendurch schallend und meckerig wie ein irres Kettensägenmörderschaf.
    Auf Erdals CD waren einige Songs, die ich zwanzig Jahre nicht mehr gehört hatte. Trotzdem schossen mir nach den ersten Takten gestochen scharfe Erinnerungen durch den Kopf.
    Ich müsste ziemlich lange überlegen, was ich Frank zum letzten Geburtstag geschenkt habe, und selbst wo ich letztes Silvester war, würde mir nicht auf Anhieb einfallen. Aber bei «1999» von Prince wusste ich sofort wieder, dass ich Silvester 1989 um Mitternacht allein war.
    Das Haus meiner Eltern war leer, alle waren ausgegangen, ich saß im Wohnzimmer auf einer, nach heutigen Maßstäben, außergewöhnlich hässlichen dunkelbraunen Ledercouch und trank einen, nach heutigen Maßstäben, außergewöhnlich schlechten, süßen Sekt.
    Und ich schrieb ein Gedicht – und das war auch nicht gut.
    Meine erste große Liebe Tom Mahlmann hatte mich zum dritten Mal verlassen, und der Liebeskummer war mit jeder Trennung noch etwas unerträglicher geworden.
    Kummer gehört zur Kreativität wie die Fritten zur Currywurst. Ich glaube nicht, dass jemals etwas Weltbewegendes erschaffen wurde von einer zufriedenen Frau, die in einem Reihenhaus mit Carport und Komposthaufen lebt. Zu etwas wirklich Großem gehört nun mal ein großer Schmerz. Und in dieser Nacht fühlte ich mich zu Großem berufen.
    So gesehen war ich, im Nachhinein betrachtet, wohl doch nicht unglücklich genug gewesen. Aber damals erschien der Schmerz mir erhaben – und das von mir verfasste Gedicht auch.
    «Ich bin stark und gehe meinen Weg,
    auch wenn am Ende das Wort Abschied steht.»
    Ich hörte Düsteres von Anne Clark und den Simple Minds, fühlte mich sehr erwachsen und der Welt mental weit überlegen, im Besonderen Tom Mahlmann.
    Gegen halb zwei fuhr ich zu einer Silvesterparty. Ich tanzte zu «1999» und rechnete mir aus, dass ich im Jahr 1999 grauenerregende siebenundzwanzig Jahre alt sein würde. Biblisch. Unglaublich. Ob das Leben dann überhaupt noch lebenswert sein würde? Vermutlich nicht. Ob ich dann überhaupt noch leben würde? Hoffentlich nicht. Schließlich ging die große Zeit von Eddy Grant, Bronski Beat und Diana Ross auch schon zu Ende. Und von Heaven 17, Madness und Trio redete bereits keiner mehr.
    Deswegen entschied ich, alles mitzunehmen, was das Leben mir jetzt zu bieten hatte. Zügig trank ich drei Persico-Apfelsaftund knutschte mit Christian, um Tom eifersüchtig zu machen. Das hatte bisher immer funktioniert. So auch diesmal. Um halb vier morgens waren wir wieder ein Paar. Nicht sehr lange. Dann litt ich erneut und verfasste noch mehrere Gedichte, von denen bisher jedoch keines veröffentlicht wurde.
     
    «Goldimaus, alles in Ordnung?»
    «Aber ja. Warum fragst du?»
    «Weil du gerade ‹Ach ja› gesagt hast.»
    «Ich fürchte, deine CD stimmt mich etwas melancholisch.»
    Erdal drehte die Musik leiser und räusperte sich.
    «Rosemarie, bist du eigentlich gesund?»
    «Wie bitte?»
    «Na ja, hast du irgendwas Fieses oder eine schlimme Erbkrankheit?»
    «Was soll die Frage? Soweit ich weiß, bin ich vollkommen gesund.»
    «Und warum hast du dann keine Kinder? Bist du vielleicht unfruchtbar?»
    «Hast du sie nicht mehr alle? Ich habe keine Kinder, weil ich keine will, jedenfalls noch nicht oder vielleicht auch nie.»
    «Brauchst du Geld?»
    «Erdal, jetzt reicht es aber. Sag, worauf du hinauswillst, oder du kannst auf dem Seitenstreifen übernachten.»
    «Bitte beruhige dich. Es ist nur, wie soll ich es dir sagen? Marie, ich will ein Kind von dir.»
    Ich lachte. Er nicht.
    Ich schwieg. Ich schwieg länger. Aber Erdal blieb stumm.
    Ich hörte, wie er tief durchatmete, dann war wieder Stille.
    «Erdal?»
    «Moment bitte.»
    Er wühlte in seinem Herrenhandtäschchen, holte ein Asthma-Pümpchen hervor und inhalierte zweimal tief.
    «Entschuldige bitte, aber Aufregung bekommt mir nun mal nicht. Jetzt kann ich dir erklären, worum es geht, ohne dass ich dabei ersticke. Weißt du, Marie, ich bin wirklich glücklich. Ich habe den Mann gefunden, mit dem ich mein Leben lang zusammenbleiben will, auch wenn ich den einen oder anderen klitzekleinen Seitensprung nicht

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