Schwerelos
Inneren wusste ich schon damals, dass ich schwul bin. Meine geheime Flamme war Werner. Und ich muss dir ehrlich sagen, wenn er nicht so einen indiskutablen Arsch bekommen hätte, hätte ich heute Abend für nichts garantiert.»
«Du bist Single?»
«Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?»
«Ach, mein Küppi Kanak, ich freue mich auf die Zeit mit dir in Hamburg.»
«Du bist wirklich die Einzige, die mich noch Küppi Kanak nennen darf.»
«Entschuldige, aber ich habe komplett vergessen, wie du wirklich heißt.»
«Darf ich mich vorstellen? Ich bin dein alter, neuer Freund Erdal Küppers.»
Als zu fortgeschrittener Stunde die Turnhalle zur Achtzigerjahre-Disco wurde, gab es für Erdal kein Halten mehr.
Er zog mich auf die Tanzfläche und rotierte wie ein außer Kontrolle geratenes Kinderspielzeug durch die Halle, während ich mich mit zögerlichen Schrittchen kaum von der Stelle bewegte. Die eine Hand im Nacken, die andere auf dem Bauch wie John Travolta zu «You’re the one thatI want», betanzte er Elsbeth Strecker, als wolle er sie hier und jetzt begatten. Elsbeth zierte sich zunächst etwas.
Das war aus meiner Sicht verständlich, hatte sie doch noch kurz zuvor mit ihrer Lebensleistung angegeben, die sie als Mutter von vier Kindern erbracht hatte.
«Die hast du alle vier persönlich ausgetragen und gestillt?», hatte Erdal gefragt. «Grundgü tiger , Elsbeth, da möchte ich lieber nicht wissen, wie deine Brüste aussehen.»
Aber Erdal war offensichtlich nicht der Typ, dem man lange etwas übelnehmen konnte. Was sicherlich auch daran lag, dass er sich selber überhaupt gar nichts übelnahm und tatsächlich keine seiner herzlichen Beleidigungen böse meinte.
Alle liebten ihn an diesem Abend, und er sich selbst am meisten. Sogar Flittchen-Fricke tanzte nach einer Weile wie absichtslos in Erdals Nähe und war glücklich, als er sie zweimal drehte und dann sehr plötzlich bei «I want your sex» von George Michael losließ, um auf unseren erschrockenen und gleichzeitig geschmeichelten Physiklehrer Müllges loszuwirbeln, immer wieder fröhlich rufend: «I love this man!»
Erdal spielte Luftgitarre zu Bryan Adams, Luftschlagzeug zu Deep Purple und Luftklavier zu Elton John. Er sang jedes Lied mit, und das teilweise doch recht falsch. Er war dabei aber so von sich und der Richtigkeit seiner Versionüberzeugt, dass man geneigt war, zu vermuten, der Interpret habe sich bei seinem eigenen Text vertan.
Seine erstaunlich feinen Hände legte er dabei auf jedes Hinterteil, das ihm in die Quere kam, und beim Engtanz zu «How deep ist your love?» von den Bee Gees drückte er unsere ehemalige Religionslehrerin so innig, dass ich um die Gesundheit ihrer betagten und womöglich künstlichen Hüften fürchtete.
Es war ein großartiger Abend. Gegen vier Uhr morgens stand ich müde und glücklich vor meiner ehemaligen Schule und wartete auf ein Taxi. Jemand legte mir den Arm um die Schulter und nuschelte in mein Ohr: «Wolln wir uns ’n Taxi teiln?»
«Musst du denn in meine Richtung?»
«Nee, würd ich aber gern.»
«Ach, lass mal.» Ich stieg ins Taxi ein, winkte Werner Degenhardt mitsamt seinem Tränen-Arsch freundlich zu und ließ meine Vergangenheit einfach stehen.
«Ich will ein Kind von dir!»
Ein paar Tage später fuhren wir in meinem Auto von Wiesbaden nach Hamburg zurück. Erdal hatte für mich eine CD gebrannt, die reines Botox war. Nach den ersten Titeln fühlte ich mich wie eine Frau ohne Orangenhaut, die bei Tageslicht und ohne Komplexe einen Siebzehnjährigen verführt.
Ein Lied von Hubert Kah, das mir 1982 zu einer kurzen Berühmtheit verhalf, hörten wir gleich viermal hintereinander:
Rosemarie, rote Rose, rote Rose, Rosemarie!
Duuuuu, nur du!
Tanz bitte tanze, tanze tanze mit mir Rosemarie!
Duuuuu nur du!
Ich steck dir rote Rosen an.
Wir spielen dann Frau und Mann.
Fühl bitte fühl mich, fühl mich bitte fühl mich Rosemarie!
Duuuuu nur du!
Dieser zu Unrecht fast vergessene Titel des anbetungswürdigen Interpreten Hubert Kah hatte meinen Namen in die Charts gebracht und mich zumindest kurzfristig der Lächerlichkeit entzogen. Meine Mitschüler tanzten Pogo undsangen dazu «Rosemarie». 1982 war meine große Zeit, trotz Zahnspange.
Erdal hatte trotz der eisigen Kälte die Fenster runtergedreht und sang sich bei Tempo hundertsechzig die Seele aus dem Leib.
Ich liebe die Autobahn bei Nacht. Sie macht mich sehnsüchtig bis zur Unerträglichkeit, und ich fühle mich so frei, als
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