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Schwerelos

Schwerelos

Titel: Schwerelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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auch als ich größer wurde. Aber Rosemarie hatte mir nie gesagt, dass es die Schuhe tatsächlich gab und dass sie sich sogar die Mühe gemacht hatte, sie die ganzen Jahre aufzubewahren. Ich hatte immer angenommen, die Geschichte sei symbolisch gemeint gewesen, wie ein Märchen, erfunden, aber irgendwie trotzdem wahr.

    Ich liebte es, wenn sie den Arm um mich legte und mich mit ihrem Magnolien-Parfüm umhüllte, meist wundervoll ergänzt durch einen Hauch von schottischem Whisky, von dem sie üblicherweise am späten Nachmittag ein Glas trank. «Es waren wunderschöne Schuhe», sagte sie dann. «Und die Absätze waren für damalige Verhältnisse wagemutig hoch. Du kannst dir das nicht vorstellen, aber ich hatte wirklich sehr schicke Beine mit schlanken Fesseln. Ich war dreiundzwanzig, und meine Mutter war so froh, dass sich doch noch ein Mann gefunden hatte, der mich heiraten würde, dass sie mir erlaubte, diese sagenhaft teuren Schuhe zu kaufen. Ich habe sie nur ein einziges Mal in meinem Leben getragen. Aber bis zum Altar habe ich es mit ihnen nicht geschafft.»
    An dieser Stelle machte Rosemarie immer eine bedeutsame Pause. Und obschon ich nicht nur die Geschichte, sondern auch die Pausen auswendig kannte, war ich jedes Mal wieder gespannt, wie es weitergehen würde.
    «Ich war wirklich eine schöne Braut, viel zu schön für die Ehe, die dann folgte. Aber auf dem Weg zur Kirche brach mir auf dem Kopfsteinpflaster ein Absatz ab. Mein Bräutigam wartete schon, und in der Eile konnte der Schuh natürlich nicht mehr repariert werden. Würde ich dir ein Märchen erzählen, wäre jetzt selbstverständlich ein Prinz des Weges gekommen, um mich in letzter Sekunde vor dem Fehler zu bewahren,den ich dabei war zu machen. Aber so war es nicht. Deine Mutter wurde gezwungen, der Trauung auf Strümpfen beizuwohnen, und ich wurde gezwungen, die Schuhe deiner Mutter zu tragen. Und die hatte Senkfüße und trug klobige braune Schnürschuhe – ein Sonderangebot, du kennst sie ja. Und das ist der Grund, warum ich auf meinen Hochzeitsfotos immer nur bis zu den Waden abgebildet bin und warum ich beim Walzer aussah wie ein Flusspferd in einem Albtraum in Weiß.»
    Ich betrachte die Schuhe. Sie sind ungetragen, aber es ist deutlich zu sehen, dass der rechte Absatz angeklebt wurde. Tante Rosemarie hat die Schuhe irgendwann reparieren lassen. Aber wann? Und warum?
    Noch ein weiteres Geheimnis, das sie mit in ihr leeres Grab genommen hat.
    Ich wickle das Buch aus dem Seidenpapier: das Tantenbuch! Ein halbes Jahrhundert lang hat sie darin ihre Lieblingsstellen aus Büchern, Filmen und Gesprächen notiert. Wie oft hat sie mir daraus lachend oder weinend vorgelesen.
    Ihre Handschrift war steif und streng und passte schon lange nicht mehr zu ihr. Sie war nur noch eine Erinnerung an die Zwänge und Unfreiheiten, von denen sie sich befreit hatte. Sie hatte die falsche Schrift, ich die falschen Haare.
    Ich fange an zu blättern:
     
    «Einen Fluss in seine Bäche zerlegen.
    Einen Menschen verstehen.»
    (ELIAS CANETTI)
    «Unsere Verletzungen müssen Nester für Blumen werden.»
    (PETER HANDKE)
    «Wer nicht verzweifeln kann, muss nicht leben

    Harmonie ist der Friedhof des Gefühls.
    Solange man noch unglücklich sein kann, kann man
    auch noch glücklich sein.»
    (MARTIN WALSER)
    «Die Ehe ist eine Hölle bei gemeinsamem Schlafzimmer.
    Bei getrennten Schlafzimmern ist sie nur noch ein Fegefeuer.
    Ohne das Zusammenwohnen wäre sie vielleicht das Paradies.»
    (JÜRGEN VON DER LIPPE)
    «Falls ich einmal sterbe   …»
    (PROMETHEUS)
     
    Und es beginnt im kalten Zimmer nach Magnolien zu riechen. Nein, keine Einbildung. Es ist, als sei sie in den Raum getreten, als stünde sie am Fenster, direkt hinter mir, würde mir über die Schulter sehen, hinunter auf Berlin. Wie so oft. Ich drehe mich um. Natürlich ist sie nicht da. Ich bemerke, dass einige Seiten im Tantenbuch fleckig sind und manche Stellen sogar noch ein wenig feucht. Tante Rosemarie muss ihr Parfüm ausgelaufen sein. Lange kann das nicht her sein.
    Du lebst nicht mehr, aber ich kann dich noch riechen.
    Ich schließe die Augen und trinke einen Schluck irischen Whiskey, den ich mitgebracht habe. Auf dein Wohl!
    Ich bin noch gar nicht wirklich dazu gekommen, Abschied zu nehmen, zu trauern, mir klarzumachen, was es für mich bedeuten wird, ohne dich sein zu müssen.
    Seit deiner Beerdigung ist mein Leben unerwartet lebendig und ungewohnt unübersichtlich: eine schwangere Cousine, ein

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