Schwerelos
türkisches Kinderlied gebrüllt, das wir alle schon auswendig kannten. Als sich nichts regte, meinte Leonie, dass es vielleicht nur eine Blähung war. Die Vorstellung, dass Erdal sich minutenlang zärtlich mit einem verklemmten Pups beschäftigt hatte, beschämte ihn jedoch nicht im Geringsten. Er war der perfekte werdende Vater.
Leonie war bei Erdal und Karsten in eines der Gästezimmergezogen und ließ sich jeden Morgen von den beiden daran erinnern, ihre Folsäuretabletten zu nehmen. Die regelmäßige Zupfmassage der Bauchdecke – Erdal fand, seinem Bauch könne etwas Straffung durchaus auch nicht schaden – absolvierten Leonie und er jeden Abend gemeinsam auf dem Sofa.
Mit hochgelegten Beinen, einem Kännchen «Frauentee» und einer Tüte «Joghurt-Gums mit null Prozent Fett» saßen die beiden vor dem Fernseher, während Karsten so heroische Dinge tat wie in schwindelnder Höhe eine kaputte Glühbirne ersetzen. Die alte Kommode von Erdals Tante abbeizen und zum Wickeltisch umbauen. Nach Einbruch der Dunkelheit um die Alster joggen.
Erdal war manchmal etwas übereifrig und musste in seine Schranken gewiesen werden.
So weigerte sich Leonie, Weißkohlblätter in ihren BH zu stopfen, um sicherheitshalber bereits jetzt den Milchfluss anzuregen. Und jeden Abend in Konzertlautstärke Mozarts «Kleine Nachtmusik» zu hören, um dem Kind den Zugang zu klassischer Musik zu erleichtern, hatte sie irgendwann auch keine Lust mehr.
Vor ein paar Tagen hatte ich mit der Kleinfamilie «Germany’s next Topmodel» geschaut, beschämend konzentriert und fasziniert dafür, dass ich einen intellektuellen Beruf ausübe. Auf den Fluren unseres Verlages ist es gemeinhin kein Gesprächsthema, ob Elena auf dem Laufsteg wirkt wie eine besoffene Giraffe ohne Navigationssystem oder ob Gina-Lisa ohne Hair Extensions einer sehr, sehr kranken Ratte gleicht.
«Ich wette, dein Verleger ist heute auch früher abgehauen», meinte Erdal. «‹Unverschiebbarer Anschlusstermin›,wird er gemurmelt haben. Und jetzt sitzt er mit gelockerter Krawatte vorm Fernseher und rätselt, was Hair Extensions sind und warum seine Frau nach drei Kindern so ganz anders aussieht als Heidi Klum.»
«Ich fürchte, du hast unrecht. Der sitzt gerade in einer Titelkonferenz, die sich elend lang hinzieht, und fragt sich, warum es so wenig Synonyme für ‹Bachblüten› und ‹Kräu terkunde › gibt.»
«Marie, diese Sendung sehen so viele Leute, da müssen einfach etliche dabei sein, von denen wir nicht glauben, dass sie dabei sind. Wir zum Beispiel. Und dein Verleger.»
«Pssst», zischte Leonie.
Erdal und ich verstummten. Schwangeren Frauen muss man gehorchen, ansonsten regen sie sich auf, bekommen frühzeitige Wehen und verbringen Wochen im Krankenhaus.
Im Fernseher sagte Heidi Klum: «Du hast heute alles gegeben. Aber uns war das nicht genug.»
Das Mädchen – ich habe ihren Namen vergessen, aber sie hatte fast peinlich lange Beine – brach in Tränen aus.
Und Erdal und Leonie brachen auch in Tränen aus.
Ich schaute mich irritiert um.
«Entschuldige, das müssen die Hormone sein. Seit Tagen bin ich so nah am Wasser gebaut, dass ich bei jeder Kleinigkeit losheule, selbst bei Tierfilmen oder Johannes B. Kerner.»
«Und was ist es bei dir, Erdal?», fragte ich streng.
«Wenn du danach gehst, ist Erdal seit Jahren hochschwanger», antwortete Karsten für ihn.
Erdal konnte grad nicht sprechen, weil er sein tränenüberströmtes Gesicht tief in eine Serviette vergraben hatte.
Ich fühlte mich wohl.
Leonie schien mir abgesehen davon, dass sie gerade bitterlich weinte, sehr glücklich zu sein. Sie hatte mich gefragt, ob ich ihr bei der Geburt beistehen könne und Patentante werden möchte.
Die Sache mit der Geburt, da hatte ich doch etwas gezögert. Neulich hatten wir uns eine Neugeborenen-Station angeschaut, die einen sehr guten Ruf hat. Selbst durch die geschlossenen Türen der Kreißsäle drangen Geräusche zu mir, die mich an den Film «Kettensägenmassaker im Mädchenpensionat» erinnerten.
Ich finde, Gebärende sollten sich etwas zusammenreißen, können sie doch nicht wissen, wer gerade draußen vorbeikommt und wen sie mit ihrem Gekreische womöglich fürs Leben traumatisieren.
Außerdem waren mir all die grauenerregenden Geburtsgeschichten wieder eingefallen, die Mütter ja gerne auch ungefragt erzählen, oftmals während eines eben noch köstlich schmeckenden Essens.
So wie alte Onkel hingebungsvoll von Front, Kriegsgefangenschaft
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