Schwerelos
Praktikantin, die Nichte von Herrn Zilinski.»
Zwei Stunden später sitze ich wieder auf acht Quadratmetern mit Blick auf die Garage. Und ehrlich gesagt ist das genau das, was ich verdient habe. Kern und Stegele haben recht. Ich habe mich absolut unprofessionell verhalten und aus lächerlicher, privater Eitelkeit einen Autor nicht angemessen behandelt. Einen Autor, den ich besser kenne als mich selbst. Ich weiß, dass er mir niemals verzeihen wird. Und ich verstehe ihn.
Ich gehe in mein Büro und versinke in Stille und Schmerz. Sechs Sekunden lang. Dann fliegt die Tür zu meinem Kabuff mit einem großspurigen Schwung auf, den ich diesen Räumlichkeiten gar nicht zugetraut hätte, und eine junge, schlanke Schönheit stürmt herein, dicht gefolgt von unserem Pförtner.
«Rosemarie, bitte, dieser Dobermann will mich nicht zu dir lassen. Du bist die Einzige, die mir helfen kann. Wo ist er?»
«Ulrike, ich habe keine Ahnung.»
«Lüg mich nicht an!»
«Du bist seit drei Jahren Conradis Geliebte. Deinetwegen macht er eine Paartherapie. Deinetwegen macht er Sport. Deinetwegen isst er Rohkost. Warum glaubst du, dass er mir eher sagen würde, wo er ist, als dir?»
«Weil du alles weißt. Weil er dir alles anvertraut. Weil er dich braucht. Ich dachte immer, ich sei seine Muse, die Frau, die ihn zu einem guten Autor macht. Aber das bist du.»
«Ich weiß nicht, wo er ist. Ich schwöre es dir.»
«Dann ist er verloren.» Ulrike schlägt die Hände vors Gesicht und weint. Und mir ist so ganz allmählich auch zum Heulen zumute.
«Marie, wenn er sich bei dir meldet, sag ihm, dass ich ihn liebe, dass ich noch nie jemanden so geliebt habe wie ihn. Und dass ich nie wieder jemanden so lieben werde wie ihn.»
Ulrike macht eine dramatische Pause, wie es ihrem Wesen entspricht. Meinem aber nicht, deswegen sage ich eher nüchtern:
«Okay, das kann ich mir merken.»
«Sag ihm, dass ich ‹Hauptsache Liebe?› sehr genau gelesen habe und deswegen meinen Schulfreund Hannes heiraten werde. Ich will endlich vernünftig sein. Die Affäre mit Michael kostet mich so viel Kraft. Ich kann das nicht mehr. Ich will endlich Frieden und wissen, zu wem ich gehöre. Und zu Michael werde ich niemals gehören. Das ist mir klar, seit er von seiner Frau getrennt ist. Er liebt mich nicht. Zumindest nicht so sehr wie ich ihn. Und das kann ich auf Dauer nicht aushalten.»
«Liebst du diesen Hannes denn?»
«Er liebt mich. Und er stört mich nicht.»
Wie Sex. Na ja, fast. Aber wirklich durchaus vergleichbar. Dieser Moment, wenn sie hochzieht und deine inneren Organe ein paar Sekunden brauchen, um sich wieder in ihre Ausgangspositionen zu begeben.
Der Mann neben mir liest Zeitung, unbeeindruckt, als säße er im Bus zur Arbeit. Ist mir unverständlich. Ich liebe das Fliegen. Und ich empfinde es jedes Mal wieder als ungeheuer, dass es überhaupt funktioniert. Wie ein Kind am Affenkäfig drücke ich mir am Flugzeugfenster die Nase platt.
Hamburg verschwindet unter den Regenwolken. Dann blendet mich jäh die Sonne. Was für eine Freiheit! Was für eine Illusion!
Ich hasse es, Entscheidungen zu treffen. Von jeher war ich ein Freund von Zwischenlösungen und Mal-abwarten-wie-es-sich-so-entwickelt-Strategien. Ich habe Angst, irgendwann zurückzublicken und feststellen zu müssen, dass ich falsch abgebogen bin.
Aber genauso viel Angst habe ich, irgendwann zurückzublicken und zu sehen: Da hättest du abbiegen müssen! Keine Entscheidung zu treffen kann mindestens genauso falsch sein, wie die falsche Entscheidung zu treffen. Warum sagt einem keiner, wie es geht?
«Nun sei doch mal ein bisschen mehr wie deine Haare», höre ich dich sagen. Ach, verdammt.
Ich schlage das Tantenbuch auf, wie so oft in den letzten Tagen. Allein ihre Handschrift und der zarte Magnolienduft, den es immer noch verströmt, genügen, um mich geborgen und mutiger zu fühlen. Ich treffe leider auf ein verstörendes Zitat von Schopenhauer:
«Daher werden die meisten Menschen, wenn sie am Ende zurückblicken, verwundert sein, dass das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen ließen, ihr Leben war, eben das war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel dieser, dass er, von Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt.»
Meine Güte, das war ja auch alles andere als beruhigend.
«Sie haben ein angenehmes Parfüm. Magnolie, nicht wahr?», sagt der Mann neben mir und vertieft sich wieder in seine Zeitung.
Ulrike
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