Schwerelos
hatte recht. Ich wusste, wo Michael Conradi ist.
Nachdem ich einmal konsequent nachgedacht und mich, was ja mittlerweile meine Spezialität ist, in seine Lage versetzt hatte, war mir klar, wo ich ihn höchstwahrscheinlich finden würde. Ich hatte sofort einen Flug gebucht. Während ich mich über das Bordmenü hermache, ärgere ich mich mal wieder über mich selbst. Man kann mich ungestraft ungerecht behandeln, man kann mich unbezahlt länger arbeiten lassen. Wäre ich ein Kleidungsstück, dann wäre ich eine gewachste Wind-und-Wetter-Jacke aus der Abteilung Funktionskleidung. Als Auto wäre ich wohl der allradgetriebene Geländewagen eines japanischen Herstellers. Und als Tier? Wahrscheinlich eine doofe Kuh.
«Pflegeleicht» nennt man jemanden wie mich, oder «all tagstauglich » oder auch «geländegängig». Frank liebt meine «Unkompliziertheit», mein Chef schätzt meine «Belastbar keit ».
Rosemarie nannte es immer: «deine gefühlte Zahnspange». «Wofür schämst du dich? Schau mich an. Streng genommen dürfte ich mich mit meinem Aussehen gar nicht mehr vor die Tür wagen. Mein Hals? Jeder Truthahn wäre stolz darauf. Und hast du eine ungefähre Ahnung, wie die Unterseite eines Oberarms aussieht, der bereits den amerikanischen Truppen bei ihrem Einmarsch in Frankfurt zugewinkt hat? Es ist jetzt fünfunddreißig Jahre her, dass ich zum letzten Mal eine ärmellose Bluse getragen habe. Da war Willy Brandt noch Bundeskanzler. Aber mein Innenleben hat weder Falten noch Altersflecken. Willst du sterben mit einer gefühlten Zahnspange im Mund?»
Ich fühle mich oft schlechter, als ich aussehe. Unter den Wind-und-Wetter-Jacken bin ich sicherlich eine der bessergeschnittenen. Aber ich bin so lange verspottet worden, dass ich ein feines Gespür für Hohn entwickelt habe. Ich merke sofort, wenn es jemand mit mir nicht ernst meint.
Kein Gespür habe ich, wenn es jemand ernst mit mir meint. Das war sogar bei Frank so. Und der ist nun wirklich nicht der Typ für Spielchen und Unklarheiten. Der hat mich, nachdem er die Software unseres Verlages erneuert hatte, auf ein Getränk eingeladen, mich geküsst, sich verliebt, mir gesagt, dass er sich verliebt hat – und damit war die Sache für ihn klar. War sie ja eigentlich auch.
Ich allerdings rätselte noch eine Weile lang herum, was der Typ wohl an mir finden könnte. Ich unterstellte ihm wahlweise, dass er sich mit mir über die Trennung von seiner letzten Freundin hinwegtrösten oder sich einfach nur eine schöne Zeit machen wolle, bis ihm was Besseres über den Weg läuft.
Es dauerte ein paar Monate – Frank hatte sich erstaunlicherweise immer noch nicht in eine andere verliebt – bis ich bereit war, zu glauben, dass es sich hier um einen Fall von aufrichtiger Zuneigung mit längerfristiger Perspektive handelte.
Mittlerweile bin ich mir Franks Gefühle für mich absolut sicher. Ich weiß, dass er mich liebt – so gut er kann –, und ich weiß, dass es ihm viel zu anstrengend wäre, sich in eine andere zu verlieben. Untreue, unkontrollierte Leidenschaft, eine unkalkulierbare Affäre? Nein, das wären viel zu viele Unwägbarkeiten und zu viel Unvernunft für Frank. Warum wieder von vorne anfangen? Die ganzen Mühen des Sichkennenlernens, des Sicherklärens wieder auf sich nehmen, bloß um in ein paar Jahren wieder am selben Punkt anzugelangen?
Nein, mein Frank ist nicht der Typ für so einen Quatsch. Und ich auch nicht. Oder?
Manchmal allerdings wäre ich gerne wieder neu für jemanden und interessant. Vielleicht sogar überraschend. Vielleicht würde ich feststellen, dass ich ganz anders bin, als ich gedacht habe, unter den Blicken von jemandem, der nicht meint, mich zu kennen.
Ich glaube, ich könnte anders sein mit jemandem, der mich anders sein ließe.
Und könnte dieser Jemand Theo Bertram sein? Einerseits möbelt es mein angeschlagenes Selbstbewusstsein derzeit gehörig auf, dass er mir immer noch jeden Tag eine SMS schickt. Und ich gehe jetzt mal davon aus, dass er nicht ausschließlich an meinen ihm ja kaum bekannten inneren Werten interessiert ist.
Aber was will der von mir? Der Fernsehpreisträger, der von Emanzen wie Spießerinnen gleichermaßen angehimmelt wird, gut aussehend, ständig umgeben von anmutigen und willigen Praktikantinnen, verheiratet mit einer Frau, die sich sicherlich keine einzige Sekunde in ihrem Leben jemals die Frage gestellt hat: Was will der von mir?
Theo Bertrams Hartnäckigkeit schmeichelt mir, aber eine
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