Schwerelos
geweigert mitzukommen. Er tue sich das Drama nicht mehr an. Erdal weine bei Hochzeiten grundsätzlich lauter als beide Schwiegermütter zusammen und würde sich beim Brautstraußwerfen jedes Mal rücksichtslos wie ein Rugby-Spieler einer vom Abstieg bedrohten Mannschaft auf das Gebinde stürzen.
Erdals Schultern fangen jetzt an zu beben wie bei einer sizilianischen Witwe, die ihren von der Mafia ermordeten Mann zu Grabe geleitet. «Das sind die Hormone», flüstere ich Frank zu. Der Arme ist so viel undosierte Emotion in seinem direkten Umfeld nicht gewohnt. Ich weine ja eher selten, und schon gar nicht, wenn ich Zuschauer habe oder Wimperntusche trage. Dazu bin ich zu diszipliniert. Und zu unsicher.
Ich finde, man braucht ein sehr gesundes Selbstbewusstsein für öffentliche Wut- und Tränenausbrüche, für gewalttätige Attacken und Eifersuchtsdramen. Dafür muss es einem ziemlich egal sein, was die anderen von einem denken. Das war es mir leider nie. Ich versuche immer, nicht zu stören, nicht negativ aufzufallen und die Mittagsruhe einzuhalten.Und Frank schätzt mich dafür sehr. Und meine Nachbarn auch.
Schon allein deswegen käme für mich zum Beispiel ein Junggesellinnenabschied, wie ihn Ulrike gestern gefeiert hat, überhaupt nicht in Frage. Im Taucheranzug durch die Fußgängerzone laufen? In der U-Bahn Kondome verkaufen? Als Tanzmariechen in eine Szene-Bar gehen? Im vollbesetzten Restaurant die Orgasmus-Szene aus «Harry und Sally» nachspielen? Das wäre für mich der absolute Horror und ein Grund, nicht zu heiraten. Jemand, über den früher so viel gelacht wurde wie über mich, gibt sich später nicht freiwillig der Lächerlichkeit preis.
Ich traue mich einfach nicht, Leuten auf die Nerven zu gehen. Ich weiß nicht, ob ich die Frauen bewundern oder bemitleiden soll, die ihren Männern auf offener Straße mit ihrem Stiletto Platzwunden in die Birne hauen. Die laut werden, wenn der Kellner findet, der Wein sei aber gar nicht korkig und die Seezunge ganz bestimmt frisch. Und die mit etwas sehr Schwerem und Zerbrechlichem nach der Kollegin schmeißen, von der sie glauben, sie sei scharf auf ihren Freund.
In meinem Leben sind solche südländischen Momente rar gesät. Ich werde nie laut, und die Musik mache ich schon wieder leiser, bevor sich jemand beschwert. Ich glaube eigentlich nicht, dass ich kein Temperament habe. Es bricht bloß selten aus.
«Daran musst du arbeiten», hatte Erdal gesagt. Ich war mit ihm im «Cox» zum Essen verabredet gewesen. Als ich eine halbe Stunde gewartet hatte, rief ich ihn an.
«Wo bleibst du?»
«Wieso? Ich bin im ‹Cox›.»
«Aber da bin ich auch.»
«Das kann nicht sein. Wo denn?»
«Im hinteren Raum, da wo die Toiletten sind.»
«Goldi, mein dummer Schnuppel, wenn du nicht Stammgast oder Maria Furtwängler bist, merk dir Folgendes: Akzeptiere nie den ersten Tisch, der dir angeboten wird. Es ist bestimmt nicht der beste. Das Gleiche gilt für Hotelzimmer, Gebrauchtwagen, Callboys und Kreditkonditionen. Und jetzt schieb deinen Knackarsch zu mir rüber. Ich sitze vorne rechts am Fenster.»
«Aber da waren doch alle Tische reserviert.»
«Ja, für die Leute, die sich nicht neben die Toiletten setzen lassen.»
Wir sitzen im Mittelschiff und haben einen prächtigen Blick auf das Brautpaar vor dem Altar. Ich bin nicht übermäßig gläubig, aber wenn ich Gott wäre, würde ich mich wohl doch ein wenig ärgern, warum ausgerechnet ein Paar wie Ulrike und Hannes kirchlich heiratet.
«Ich hätte ja lieber katholisch geheiratet», hatte Ulrike mir beim Junggesellinnenabschied mitgeteilt. «Die Katholiken machen einfach die bessere Show, und ihre Kirchenlieder sind auch viel melodiöser. Aber Hannes und ich wollen unbedingt, dass unser Kind diesen tollen evangelischen Kindergarten besucht, wo die Kinder von Johannes B. Kerner sind. Und um dort einen Platz zu ergattern, ist es von Vorteil, wenn die Eltern bereits in der Gemeinde getraut wurden.»
«Aber ihr habt doch gar kein Kind.»
«Noch nicht. Aber ich heirate doch nicht einen Mann wie Hannes, um mit ihm allein zu bleiben.»
Na ja, denke ich, durch die Orgelmusik milde gestimmt,vielleicht braucht ja gerade so ein Paar ganz besonders dringend Gottes Segen.
«Sie dürfen die Braut jetzt küssen.»
Ich schließe die Augen.
Sie ist da.
Ich hatte schon auf sie gewartet. Zwar ist sie nicht eingeladen, doch es war nahezu sicher, dass sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen würde. Gut sieht sie aus.
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