Schwerelos
zum ersten Mal gebrüllt hatte: «Auaaaaaa! Mamaaaa! Ich kann nicht meeeeeehr!»
«Man muss das als Geschenk der Natur sehen, an dem wir innerlich wachsen», sagt Caroline, die Schwangere neben mir.
Natur! Mir reicht es langsam mit Natur. Ich kann die Natur nicht leiden. Ich gehe ja noch nicht mal besonders gern spazieren. Und Caroline hat mich ohnehin von Anfang an verunsichert mit ihren ständigen Stretchübungen, bei denen sie ihre Füße hinter ihre Ohren steckt. Das kann ich nicht mal ohne Achtmonatebauch. Caroline will eine Hausgeburt in einem eigens angemieteten Planschbecken machen und außer Himbeerblättertee nichts Schmerzlinderndes zu sich nehmen.
Wohingegen ich mir den Zugang für das Schmerzmittel ja am liebsten sicherheitshalber schon weit vor der Zeugung zwischen die Rückenwirbel legen und sämtliche Anästhesisten des Krankenhauses mit Delikatesskörben bestechen würde.
«Das war doch bloß vorgespielt», versucht Leonie mich zu beruhigen. Komisch, bei «Germany’s next Topmodel» weint sie Sturzbäche, aber diese Horrorvorstellung hat sie absolut kaltgelassen. Versteh einer die Schwangeren.
Und was heißt denn hier «nur vorgespielt»? Der Tod von Winnetou, das Siechtum des englischen Patienten, der Abschied von E. T. und die schlimme Lungenkrankheit von Sissi waren ja schließlich auch «nur vorgespielt». Aber als leidlich phantasiebegabter Mensch geht einem das natürlich trotzdem und auch über Jahre hinweg sehr nahe.
Geburtsvorbereitungskurse, so mein Fazit, sind definitivnur was für Schwangere. Ohne eine Extraportion Hormone im Blut lässt sich das Ganze nicht ertragen.
«Und ich dachte schon, Sie finden mich nie!»
Ich stand auf dem Pont Alexandre, und es war fast schon Nacht. Ich hatte ihn nicht kommen sehen.
Den ganzen Tag hatte ich all die Orte abgeklappert, von denen ich ihm vorgeschwärmt hatte, und war immer unsicherer geworden. Was bildete ich mir eigentlich ein? Michael Conradi konnte auch auf Bora Bora oder am Ballermann sein. Was für eine Anmaßung. Was für eine peinliche Selbstüberschätzung. Sonst doch eigentlich gar nicht meine Art.
Würde ich ohne ihn oder ein paar Seiten seines Manuskripts zurückkehren, dann konnte ich meine Karriere bei Kellermann & Stegele vergessen. Dann steht meiner Mutterschaft ja nichts mehr im Wege, dachte ich verbittert.
Was wohl aus der Wohnung geworden war? Ich hatte nicht den Mut gehabt, zur Île Saint-Louis zu gehen. Dort würde ich nur meiner Trauer um meine tote Tante begegnen und meiner Scham vor mir selbst. Ich hatte mein Versprechen nicht gehalten. Ich war nie zurückgekommen.
«Ich kann nun mal nicht aus meiner Haut», versuchte ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Aber das funktionierte nicht mehr so gut wie sonst.
Ich stellte mich mitten auf den Pont Alexandre und wartete. Zwei Stunden lang.
Michael Conradi sah verändert aus. Nicht mehr so verwöhnt und sich selbst genießend. Er war schmaler geworden, und mit den Barolo-Polstern im Gesicht war auch der leicht blasierte Ausdruck verschwunden. Er sah wund aus. Und das stand ihm gut.
Wir umarmten uns so stakelig, wie wir es immer getan hatten. Jede Körperlichkeit war uns immer irgendwie unangenehm gewesen. Wir waren uns zu nah für unverfängliche Berührungen.
Er räusperte sich. Ich hatte ihn noch niemals verlegen erlebt.
«Ich will nichts wissen. Bitte keine Nachrichten von meinem Verleger, meiner Frau oder meiner Freundin. Ich habe bereits alles entschieden. Ich reise morgen in aller Frühe ab. Wir haben also eine Nacht Zeit. Ich werde Ihnen alles über das Buch erzählen, das ich schreiben werde.»
Um fünf Uhr morgens verabschiedeten wir uns vor dem Hotel «Costes» in der Rue Saint-Honoré.
«Auf Wiedersehen, Marie.»
«Auf Wiedersehen.»
Weltstillstand.
Und dann ging er vorbei. Der einzig mögliche Moment. Die ewig lang währende Sekunde. Man kennt diese Wenn-dann-jetzt-oder-nie-Situationen aus dem Kino. Küssen sie sich, oder küssen sie sich nicht? Werden sie für immer ein glückliches Paar, oder dreht er sich um, weil er wahlweise sein Land oder das Universum retten muss?
In einem Film, der bereits am ersten Wochenende Millionen einspielt, hätte er mich erst geküsst und dann die Welt gerettet.
Aber das hier ist nun mal das wahre Leben.
«Auf die mutigste Frau der Welt!»
«Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau.»
Nach Conradis Verschwinden hatte Ulrike eine Blitzhochzeit mit Hannes organisiert.
Karsten hatte sich
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