Schwester der Finsternis - 11
andere Wahl, als ihren Platz in der Schlange zu behaupten. Der Vormittag schleppte sich dahin, ohne dass sich in der Schlange vor ihr irgendwas bewegte. Hinter ihnen nahm das Geschiebe immer mehr zu.
»Kamil«, sagte sie mit leiser Stimme mehrere Stunden später, »du brauchst nicht mit mir zu warten. Geh wieder nach Hause.«
Seine Augen waren rot und geschwollen. »Ich will aber warten.« Er klang überraschend misstrauisch. »Ich mache mir Sorgen um Richard«, fügte er mit leicht vorwurfsvollem Unterton hinzu.
»Ich mache mir auch Sorgen um ihn. Was meinst du wohl, warum ich hier bin?«
»Ich bin Euch bloß holen gekommen, weil ich solche Angst um Richard hatte und nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Alle anderen waren fort, entweder bei der Arbeit oder um Brot zu kaufen.« Kamil wandte sich ab und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Ich glaube nicht, dass Ihr Euch um ihn sorgt, aber ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.«
Nicci strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du kannst mich nicht leiden, stimmt’s?«
Er sah sie noch immer nicht an. »Nein.«
»Dürfte ich vielleicht erfahren, warum?«
Kamil blickte sich rasch verstohlen um, um zu sehen, ob jemand sie belauschte, doch jeder schien mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.
»Ihr seid Richards Frau, und trotzdem hintergeht Ihr ihn. Ihr habt Gadi mit auf Euer Zimmer genommen. Ihr seid eine Hure.«
Seine Worte ließen Nicci überrascht blinzeln. Kamil sah sich abermals um, bevor er weiterredete.
»Uns allen ist schleierhaft, warum ein Mann wie Richard sich mit Euch abgibt. Alle Frauen ohne Ehemann in unserem Haus und auch im Haus nebenan haben mir gesagt, sie wären gerne seine Ehefrau und würden ihr Lebtag nicht mit einem anderen ins Bett gehen. Sie alle meinten, sie verstehen nicht, wie Ihr das Richard antun könnt. Alle waren traurig wegen ihm, aber als wir ihm das sagen wollten, wollte er nichts davon hören.«
Nicci wandte sich ab. Die Schande, einem jungen Mann ins Gesicht zu sehen, der sie soeben übel beschimpft hatte, und das auch noch zu Recht, war für sie auf einmal unerträglich geworden.
»Du verstehst doch gar nicht, wie das damals war«, erwiderte sie leise.
Sie sah Kamil aus den Augenwinkeln mit den Achseln zucken. »Da habt Ihr allerdings Recht. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe nicht, wie eine Frau einem Ehemann wie Richard etwas so Schlimmes antun kann, einem Mann, der schwer arbeitet und gut für Euch sorgt. Um so etwas zu tun, müsst Ihr eine schlechte Frau sein, die sich kein bisschen um ihren Ehemann schert.«
Sie spürte, wie sich Tränen unter den Schweiß auf ihrem Gesicht mischten. »Ich bin Richard mehr zugetan, als du jemals begreifen wirst.«
Er antwortete nicht. Sie wandte sich um und sah ihn an. Sachte federnd drückte er sich ein ums andere Mal von der Wand ab. Offenbar schämte er sich zu sehr für sie, oder aber er war zu wütend auf sie, um ihr in die Augen zu blicken.
»Kamil, erinnerst du dich noch, wie wir in das Zimmer in deinem Haus eingezogen sind?«
Er nickte, noch immer, ohne sie anzusehen.
»Weißt du noch, wie grausam du und Nabbi zu Richard gewesen seid, all die gemeinen Dinge, die ihr zu ihm gesagt, all die kränkenden Schimpfworte, die ihr ihm nachgerufen habt? Und wie ihr ihn mit euren Messern bedroht habt?«
»Ich habe einen Fehler gemacht«, erwiderte er, und es klang, als meinte er es ernst.
»Kamil, auch ich habe einen Fehler begangen.« Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Tränen zu verbergen – die Hälfte aller Frauen im Raum weinte. »Ich kann es dir nicht erklären, aber Richard und ich hatten Streit. Ich war wütend auf ihn und wollte ihn verletzen. Das war verkehrt; es war töricht, so etwas zu tun. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«
Schniefend tupfte sie ihre Nase mit einem kleinen Taschentuch ab. Kamil beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
»Ich gebe zu, es war nicht dieselbe Art von Fehler wie damals von dir und Nabbi, als ihr euch bei eurer ersten Begegnung mit Richard so schlimm aufgeführt habt, aber ein Fehler war es trotzdem. Ich habe mich auch schlimm benommen.«
»Ihr wolltet gar nichts von Gadi?«
»Mir wird schlecht, wenn ich Gadi nur sehe. Ich habe ihn nur benutzt, weil ich wütend auf Richard war.«
»Und tut es Euch Leid?«
Niccis Kinn bebte. »Natürlich tut es mir Leid.«
»Ihr werdet nicht noch einmal wütend werden und es wieder tun? Mit einem anderen Mann?«
»Nein. Ich habe
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