Schwester der Finsternis - 11
die Leute verbracht werden. Kein Mensch kann von den Volksprotektoren erwarten, dass sie den Aufenthaltsort eines jedes Einzelnen von ihnen kennen.«
»Vielen Dank«, sagte Nicci, ohne recht zu wissen, wofür sie sich bei ihm bedankte. »Warum wird er festgehalten? Wie lautet die Anklage?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Woher sollen wir wissen, wie die Anklage lautet, schließlich hat er noch nicht gestanden.«
Nicci wurde schwindelig; mehrere andere Frauen waren bereits während ihres jeweiligen Gesprächs mit dem Protektor in Ohnmacht gefallen. Die Hände der Gardisten an ihren Armen packten fester zu, und der Protektor wollte bereits die Hand zum Zeichen heben, man möge sie fortschaffen, als Nicci ihm zuvorkam und ihm, mit so ruhiger Stimme wie nur eben möglich, zuredete.
»Bitte, Protektor Muksin, mein Ehemann ist kein Unruhestifter. Er arbeitet von früh bis spät und verliert nie ein schlechtes Wort über jemanden. Er ist ein unbescholtener Mann, der immer tut, was man ihm sagt.«
Während sie beobachtete, wie ein Schweißtropfen über seine Wange rollte, schien er den Bruchteil einer Sekunde lang über etwas nachzudenken.
»Versteht er sich auf irgendein Handwerk?«
»Er ist ein guter Arbeiter, der dem Orden dient. Er belädt Wagen.«
Noch ehe sie ganz ausgesprochen hatte, wusste sie, dass ihre Antwort ein Fehler war. Die Hand ging hoch, zuckte kurz und scheuchte sie fort wie eine lästige Mücke. Mit einem mächtigen Ruck hoben die Gardisten sie von den Füßen und entfernten sie aus der Gegenwart dieses wichtigen Mannes.
»Aber mein Ehemann ist ein rechtschaffener Bürger! Ich flehe Euch an, Protektor Muksin, Richard war an keiner dieser Unruhen beteiligt! Er war zu Hause!«
Ihre Worte waren aufrichtig und größtenteils die gleichen wie die der Frauen vor ihr. Sie war außer sich, weil sie ihn nicht davon überzeugen konnte, dass sie anders war – und Richard ebenfalls. Die anderen, das wusste sie jetzt, hatten alle dasselbe versucht.
Kamil lief den Gardisten hinterher, als sie sie durch einen kurzen, dunklen Flur zu einem Seitenausgang der Festung schleppten. Abendliches Licht stahl sich herein, als sie die Tür öffneten. Sie versetzten ihr einen Stoß, und Nicci stolperte die Stufen hinunter. Kamil wurde unmittelbar hinter ihr hinausgestoßen. Er landete mit dem Gesicht voran im Staub. Nicci ließ sich auf die Knie sinken, um ihm aufzuhelfen.
Kniend schaute sie hinauf zur Türöffnung. »Was ist mit meinem Ehemann?«, presste sie hervor.
»Du kannst an einem anderen Tag noch einmal wiederkommen«, meinte ein Gardist. »Sobald er gesteht, kann dir der Protektor sämtliche Anklagepunkte nennen.«
Nicci wusste, dass er niemals gestehen würde. Eher würde er sterben.
Doch das war, so weit es diese Männer anbelangte, kein Problem.
»Kann ich ihn sehen?« Nicci faltete flehend die Hände, während sie neben Kamil kniete. »Bitte, kann ich ihn wenigstens besuchen?«
Der eine Gardist raunte dem anderen etwas zu.
»Hast du Geld?«, fragte er sie.
»Nein«, entfuhr es ihr mit einem traurigen Schluchzer.
Sie machten Anstalten, ins Gebäude zurückzugehen.
»Wartet!«, rief Kamil.
Als sie daraufhin innehielten, rannte er die Stufen hinauf, schob sein Hosenbein hoch und zog einen Stiefel aus. Diesen drehte er herum, bis eine Silbermünze in seine Hand fiel, die er ohne großes Aufhebens dem Gardisten überreichte.
Der Mann machte ein unzufriedenes Gesicht, als er die Münze betrachtete. »Das ist nicht genug für einen Besuch.«
Als er sich daraufhin abwenden wollte, hielt Kamil den Mann am Handgelenk fest. »Zu Hause habe ich noch eine. Bitte, lasst sie mich holen gehen. Wenn ich renne, kann ich in einer Stunde wieder hier sein.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Heute Abend nicht mehr. Die Besuchszeit für diejenigen, die die Gebühr entrichten können, ist übermorgen bei Sonnenuntergang. Aber es ist nur ein Besucher erlaubt.«
Kamil deutete auf Nicci. »Seine Ehefrau. Sie wird ihn besuchen.«
Der Gardist musterte Nicci feixend von Kopf bis Fuß, so als dächte er darüber nach, was sie sonst noch dafür bieten könnte, um ihren Mann zu sehen.
»Und bring ja das Geld mit.«
Die Tür fiel krachend ins Schloss.
Kamil rannte, Tränen in den Augen, die Stufen hinunter und ergriff ihren Arm. »Was sollen wir bloß tun? Sie werden ihn noch zwei weitere Tage dort behalten! Zwei Tage!«
Seine Panik drohte ihn zu ersticken. Er hatte es nicht ausgesprochen, trotzdem wusste sie, was er
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