Schwester der Finsternis - 11
meinte. Dies bedeutete zwei weitere Tage, um ein Geständnis aus ihm herauszufoltern. Anschließend würden sie Richard im Himmel begraben.
Nicci packte den Arm des Jungen mit festem Griff und zog ihn fort. »Hör zu, Kamil. Richard ist stark. Ich bin sicher, er steht das durch. Er hat schon früher allerhand durchgemacht. Er ist stark, das weißt du doch?«
Nickend biss Kamil sich auf die Unterlippe und begann hemmungslos zu weinen; die Angst um seinen Freund hatte ihn wieder in ein kleines Kind verwandelt.
Nicci lag die ganze Nacht wach und starrte an die Decke. Am nächsten Tag stand sie für Brot an. Als sie dort inmitten all der anderen Frauen wartete, wurde ihr klar, dass sie den gleichen hohlwangigen Gesichtsausdruck haben musste wie sie.
Sie fühlte sich verwirrt und gelähmt und wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte; alles schien auseinander zu brechen.
In jener Nacht schlief sie nur wenige Stunden; sie befand sich in einem Zustand ruheloser Sorge und zählte die Minuten bis zum Sonnenaufgang. Als es endlich so weit war, saß sie am Tisch, den Laib Brot, den sie Richard mitbringen würde, fest umklammert, und wartete darauf, dass der sich ewig dahinschleppende Tag verstrich. Die Nachbarin, Mrs. Sha’Rim, brachte Nicci eine Schale Kohlsuppe. Verständnisvoll lächelnd ließ sie Nicci nicht aus den Augen, bis sie die Suppe aufgegessen hatte. Nicci bedankte sich bei Mrs. Sha’Rim und sagte, die Suppe sei köstlich, dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, wie sie geschmeckt hatte.
Am frühen Nachmittag beschloss Nicci, vor der Festung zu warten, bis sie eingelassen wurde. Sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen; Kamil hockte auf der Treppe und erwartete sie bereits. Eine kleine Menschenmenge lief unruhig auf und ab.
Kamil sprang sofort auf. »Ich habe den Silbertaler dabei.«
Nicci hätte ihm am liebsten erklärt, dass er ihn nicht zu bezahlen brauchte, dass sie das übernehmen würde, doch sie hatte keinen Silbertaler; alles, was sie besaß, waren ein paar Silberpfennige.
»Danke, Kamil. Irgendwie werde ich das Geld auftreiben und es dir zurückzahlen.«
»Ich will es nicht wiederhaben; es ist doch für Richard. Es ist mein Entschluss, es für Richard zu tun. Das ist er mir wert.«
Nicci nickte. Sie wusste, sie konnte schwarz werden, bevor jemand ihr einen Pfennig schenkte, dabei hatte sie ihr ganzes Leben aufgeopfert, um anderen zu helfen. Ihre Mutter hatte ihr einmal erklärt, es sei falsch, auf Dank zu hoffen; sie sei diesen Menschen allein deshalb ihre Hilfe schuldig, weil sie dazu im Stande war.
Als Nicci die Stufen hinunterstieg, gingen Leute auf sie zu und wünschten ihr Glück. Sie baten sie, Richard auszurichten, er solle stark sein und auf keinen Fall nachgeben, und boten ihr an, sich an sie zu wenden, falls sie irgendetwas für sie tun konnten oder sie Geld benötigte.
Der wortlose Weg bis zur Gefängnisfestung war ein einziger Alptraum, denn sie fürchtete, herausfinden zu müssen, dass man ihn hingerichtet hatte, oder ihn zu sehen und zu wissen, dass er im Anschluss an sein Verhör eines langsamen, qualvollen Todes sterben würde. Nicci wusste nur zu gut, wie geschickt sich der Orden auf das Verhören von Personen verstand.
Am Seiteneingang warteten ein halbes Dutzend anderer Frauen sowie ein paar ältere Männer in der drückend heißen Sonne. Sämtliche Frauen hatten beutelweise Lebensmittel dabei. Niemand sprach. Auf allen lastete das Gewicht derselben Angst.
Nicci ließ die Tür nicht aus den Augen, bis die Sonne schließlich unterging. In der aufziehenden Dämmerung hängte ihr Kamil seinen Wasserschlauch über die Schulter.
»Wahrscheinlich möchte Richard zu seinem Brot einen Schluck trinken.«
»Danke«, erwiderte sie leise.
Die eisenbeschlagene Tür öffnete sich kreischend. Alles schaute hoch zu dem Gardisten, der in der Tür erschien und alle zu sich winkte. Er warf einen flüchtigen Blick auf ein Stück Papier. Als die erste Frau die Stufen hinaufhastete, hielt er sie an und fragte sie nach ihrem Namen. Sie nannte ihn, woraufhin er ihn mit seiner Liste verglich und sie passieren ließ. Die zweite Frau wies er ab; sich heftig beklagend rief sie, sie habe für den Besuch bezahlt, woraufhin er ihr mitteilte, ihr Mann habe das Verbrechen des Verrats gestanden und dürfe keinen Besuch bekommen.
Wimmernd brach sie unter den entsetzten Blicken der anderen zusammen, die das gleiche Schicksal fürchteten. Die nächste Frau gab ihren Namen an und wurde
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