Schwester der Finsternis - 11
Rückkehr in die Unterwelt, langsam über die Schwelle, zur Tür hinaus und kroch den Hang hinunter zum Palast.
»Verkauf mir deinen Stein, Victor. Gib mir die Chance, die Schönheit in seinem Inneren zu befreien.«
Victor kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Der Stein hat einen Fehler. Man kann ihn nicht behauen.«
»Darüber habe ich schon nachgedacht. Ich habe eine Möglichkeit gefunden und weiß, wie ich es anfangen kann.«
Victor berührte den Stein mit seiner Hand, fast als wollte er einen lieben, in Not geratenen Menschen trösten.
»Du kennst mich, Victor. Habe ich dich jemals auf irgendeine Weise hintergangen? Dir Schaden zugefügt?«
Er antwortete mit leiser Stimme: »Nein, Richard, hast du nicht.«
»Ich brauche diesen Stein, Victor. So wie er das Licht aufnimmt und wieder abgibt, kann ich mir kein besseres Stück Marmor vorstellen. Er weist eine Körnung auf, in der sich feinste Einzelheiten wiedergeben lassen. Für diese Statue brauche ich das allerbeste Material. Ich schwöre dir, Victor, wenn du ihn mir anvertraust, wird er deinen Vorstellungen gerecht werden. Ich werde deine Liebe zu diesem Stein nicht verraten, das schwöre ich dir.«
Sanft glitt die kräftige, schwielige Hand des Schmieds an dem weißen Marmorquader hinauf, der ihn fast um eine Körperlänge überragte.
»Und wenn du dich weigerst, ihnen ihre Statue zu meißeln?«
»Neal meinte, dann würden sie mich wieder ins Gefängnis werfen, solange, bis sie entweder ein Geständnis von mir bekommen oder ich an den Verhören zugrunde gehe. Ich würde für nichts im Himmel begraben werden.«
»Und wenn du stattdessen deinen Plan verwirklichst und« – Victor deutete auf die Trümmer des Modells – »nicht das bildhauerst, was sie wollen?«
»Vielleicht will ich vor meinem Tod wenigstens noch einmal wahre Schönheit zu Gesicht bekommen.«
»Pah. Was willst du denn in Stein meißeln? Was möchtest du vor deinem Tod noch einmal sehen? Was könnte das sein, das es wert ist, dein Leben dafür herzugeben?«
»Die Würde des Menschen – Schönheit in ihrer erhabensten Form.«
Die Hand des Mannes auf dem Stein zögerte; er suchte Richards Augen, sagte aber nichts.
»Victor, du musst mir helfen. Ich bitte dich nicht, mir etwas zu schenken. Ich bin bereit zu zahlen, was immer du verlangst. Nenn mir deinen Preis.«
Victors liebevoller Blick wanderte zu seinem Stein zurück.
»Zehn Goldtaler«, antwortete er mit einer Mischung aus Dreistigkeit und Zuversicht, da er ganz genau wusste, dass Richard kein Geld besaß.
Richard langte in seine Tasche, zählte zehn Goldtaler ab und reichte Victor das kleine Vermögen. Der Schmied runzelte die Stirn.
»Woher hast du so viel Geld?«
»Ich habe gearbeitet und es gespart. Ich habe es mir verdient, indem ich dem Orden beim Bau seines Palastes geholfen habe. Schon vergessen?«
»Aber man hat dir dein ganzes Geld abgenommen. Nicci hat ihnen verraten, wie viel du besitzt, und sie haben dir alles weggenommen.«
Richard neigte seinen Kopf vielsagend zur Seite. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich wäre so töricht, mein ganzes Geld an einem einzigen Ort zu verstecken, oder? Ich habe überall Gold verborgen. Sollte das nicht reichen, werde ich dir eben zahlen, was immer du verlangst.«
Richard wusste, dass der Stein kostbar war – wenn auch ganz sicher keine zehn Goldtaler –, aber das Geld ging an Victor, daher wollte er über den Preis nicht verhandeln. Er würde bezahlen, was immer der Mann verlangte.
»Ich kann dein Geld nicht annehmen, Richard.« Er winkte, sich geschlagen gebend, ab. »Ich kann nicht bildhauern; es war doch nur ein Traum. Solange ich den Stein nicht bearbeite, kann ich von der Schönheit träumen, die sich in ihm verbirgt. Er stammt aus meiner Heimat, wo früher einmal so etwas wie Freiheit existierte.« Blind ertasteten seine Finger die Marmorfläche. »Der Stein besitzt Würde. Ich würde gerne sehen, wie die Menschenwürde in diesem Stück Cavaturamarmor Gestalt annimmt. Du sollst den Stein haben, mein Freund.«
»Nein, Victor, ich möchte dir deinen Traum nicht abkaufen; ich möchte ihn, wenn man so will, erfüllen. Als Geschenk kann ich ihn nicht annehmen. Ich will ihn kaufen.«
»Aber warum?«
»Weil ich gezwungen sein werde, ihn dem Orden zum Geschenk zu machen. Ich möchte nicht, dass du ihn dem Orden überlässt, das möchte ich selber tun müssen. Zweifellos werden sie ihn aber sehr viel lieber zerstört sehen wollen. Wenn es dazu kommt, muss er mir
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