Schwester der Finsternis - 11
zurückzugeben, tust du, als wollte ich dir die Augen ausstechen. Möchtest du lieber Menschen sterben sehen, statt ein kleines Almosen für ihre Errettung zu spenden? Bedeutet dir Geld wirklich mehr als ein Menschenleben, Howard? Bist du ein derart grausamer und herzloser Mann?«
Niccis Vater ließ eine Weile den Kopf hängen, schließlich erklärte er sich stillschweigend bereit, seinen Mann mit dem Gold vorbeizuschicken. Seine Stimme wurde wieder sanft. Er sagte, er wolle nicht, dass Menschen sterben, und hoffe, das Geld werde eine Hilfe sein. Dann fügte er hinzu, es sei Zeit, ins Bett zu gehen.
»Du widerst mich an mit deiner Streiterei, Howard. Du kannst einfach nicht aus freien Stücken wohltätig sein, immer muss man es dir aus der Nase ziehen – obwohl es von Anfang an das Richtige wäre. Du willigst jetzt doch nur wegen deiner geilen Gelüste ein. Glaubst du im Ernst, ich hätte keine Prinzipien?«
Niccis Vater machte einfach kehrt und ging zur Tür. Als er plötzlich Nicci auf dem Boden sitzen sah, die alles mitbekommen hatte, hielt er inne. Der Ausdruck auf seinem Gesicht machte ihr Angst, nicht weil er verärgert oder wütend war, sondern weil er mit seinen Augen ganz offensichtlich so viel sah und ihn das Unvermögen, jemals die richtigen Worte dafür zu finden, zu erdrücken schien. Nicci großzuziehen war die Aufgabe ihrer Mutter, und er hatte ihr versprochen, sich nicht einzumischen.
Er wischte sich seine blonden Haare aus der Stirn, machte kehrt und holte seine Jacke. In ruhigem, vernünftigem Ton sagte er, an Niccis Mutter gewandt, er werde jetzt gehen und nach einigen Dingen bei der Arbeit sehen.
Nachdem er gegangen war, sah auch ihre Mutter, wie sie vergessen auf dem Boden hockte, mit Perlen auf einem Brett spielte und so tat, als stelle sie Kettenhemden her. Mit verschränkten Armen blieb sie lange über Nicci stehen.
»Dein Vater geht zu Huren, weißt du das? Ich bin sicher, er ist auch jetzt zu einer Hure gegangen. Vielleicht bist du noch zu jung, um zu verstehen, trotzdem will ich, dass du es weißt, damit du ihm niemals Glauben schenkst. Er ist ein schlechter Mensch. Ich weigere mich, seine Hure zu sein. Und jetzt leg deine Sachen fort und begleite deine Mutter, ich gehe meine Freunde besuchen. Es wird Zeit, dass du dich weiter entwickelst und endlich von der Not anderer erfährst, statt dich ausschließlich um deine eigenen Bedürfnisse zu kümmern.«
Im Haus ihrer Freundin hatten sich einige Männer und mehrere Frauen eingefunden, die sich mit ernster Stimme unterhielten. Als sie sich höflich nach ihrem Vater erkundigten, berichtete Niccis Mutter, er sei fortgegangen, »um zu arbeiten oder herumzuhuren, was, weiß ich nicht, ich habe auf beides keinen Einfluss«. Einige der Frauen legten ihr daraufhin eine Hand auf den Arm und versuchten sie zu trösten. Sie habe eine fürchterliche Last zu tragen, sagten sie.
Auf der anderen Zimmerseite saß ein schweigsamer Mann, der Nicci so düster wie der Tod selbst vorkam.
Niccis Vater war schnell vergessen, als ihre Mutter sich in die Diskussion vertiefte, die ihre Freunde über die schrecklichen Lebensbedingungen der Menschen in der Stadt führten. Die Menschen litten unter Hunger, Verletzungen, Siechtum und Krankheiten, mangelnder Ausbildung, Arbeitslosigkeit, zu vielen Mäulern, die gestopft werden wollten, Alten, die versorgt werden mussten, fehlender Bekleidung, keinem Dach über dem Kopf und jeglichen nur erdenklichen Unbilden ihrer Situation. Es war alles schrecklich beängstigend.
Nicci war stets ganz bange zumute, wenn ihre Mutter davon sprach, dass es nicht mehr länger so weitergehen könne und etwas geschehen müsse. Sie wünschte sich, jemand würde endlich damit anfangen und es tun.
Aufmerksam hörte Nicci zu, wie die Glaubensfreunde ihrer Mutter über all die unduldsamen Menschen redeten, die Hass in ihrem Herzen trugen. Nicci hatte Angst, selbst als einer dieser schrecklichen Menschen zu enden. Sie wollte nicht, dass der Schöpfer sie wegen Kaltherzigkeit bestrafen musste.
Lang und breit ließen sich Niccis Mutter und ihre Freunde darüber aus, wie sehr ihnen die Probleme überall zu Herzen gingen. Hatte jemand vorgetragen, was ihn bedrückte, warf er gewöhnlich sogleich einen verstohlenen Blick hinüber zu dem Mann, der ernst auf einem einfachen Stuhl an der Wand saß und sie aus aufmerksamen, dunklen Augen beim Gespräch beobachtete.
»Einfach grauenhaft, was alles kostet«, sagte ein Mann mit schlaffen Lidern. Er
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