Schwester der Finsternis - 11
Ordnung erwachsen kann. Haben wir die Welt erst reingebrannt, wird es keine Könige mehr geben, dafür wird Ordnung in der Welt herrschen, eine Ordnung, geschützt durch die Hand des gemeinen Mannes, für den gemeinen Mann. Erst dann wird es keinen Hunger mehr geben, kein Zittern in der Kälte, kein Leid ohne Hilfe. Das Wohl der Allgemeinheit wird über die eigensüchtigen Begehrlichkeiten des Einzelnen gestellt sein.«
Nicci wollte Gutes tun – das wollte sie wirklich. Doch seine Stimme klang für sie wie eine rostige Gefängnistür, die sich knarrend hinter ihr schloss.
Aller Augen im Zimmer waren auf sie gerichtet, um zu sehen, ob sie rechtschaffen war wie ihre Mutter. »Das klingt wunderbar, Bruder Narev.«
Er nickte. »So wird es geschehen, Kind, und du wirst dazu beitragen, dass es geschieht. Lass dich von deinen Gefühlen leiten. Du wirst eine Soldatin sein, die auf eine neue Weltordnung zumarschiert. Der Weg wird lang und steinig werden, daher musst du dir deinen Glauben stets bewahren. Wir Übrigen hier im Raum werden ihr Erblühen vermutlich nicht mehr erleben, aber vielleicht lebst du lange genug, um zu sehen, wie diese wunderbare Ordnung eines Tages Wirklichkeit wird.«
Nicci schluckte. »Ich werde dafür beten, Bruder Narev.«
11. Kapitel
Am nächsten Tag wurde Nicci, beladen mit einem Korb voll Brot, gemeinsam mit einer schnatternden Schar ihrer Glaubensgenossen aus der Kutsche entlassen, um auszuschwärmen und Brot an die Bedürftigen zu verteilen. Zu diesem besonderen Anlass hatte ihre Mutter sie mit ihrem roten Rüschenkleid herausgeputzt. Ihre kurzen weißen Söckchen wiesen mit rotem Faden gestickte Muster auf. Erfüllt vom Stolz, endlich Gutes zu tun, marschierte Nicci mit ihrem Brotkorb bewaffnet die abfallübersäte Straße entlang und dachte an den Tag, da man allen die Hoffnung auf eine neue Ordnung überbringen würde, damit sie sich endlich aus bitterer Not und Verzweiflung erheben konnten.
Einige Menschen bedankten sich lächelnd für das Brot, manche nahmen das Brot wortlos und ohne Lächeln entgegen, die meisten jedoch reagierten mürrisch und beschwerten sich, das Brot komme zu spät, außerdem seien die Laibe zu klein oder von der falschen Sorte. Nicci ließ sich nicht entmutigen, sie erklärte ihnen, was ihre Mutter gesagt hatte, dass dies die Schuld des Bäckers sei, weil er zuerst das Brot für seinen eigenen Gewinn backe und erst dann das für die Mildtätigkeit, da er dafür einen geringeren Preis erhalte. Nicci erklärte ihnen, dass die verderbten Leute sie als Menschen zweiter Klasse behandelten und dass die Bruderschaft der Ordnung eines Tages in diesem Land Einzug halten und dafür sorgen werde, dass alle gleich behandelt würden.
Als Nicci so die Straße entlang ging und das Brot verteilte, packte ein Mann sie am Arm und zerrte sie in den Gestank einer engen, dunklen Gasse. Sie bot ihm einen Brotlaib an, er jedoch riss ihr den Korb aus den Händen und verlangte Silber oder Gold. Nicci erklärte ihm, sie habe kein Geld. Ihr stockte vor Schreck der Atem, als er sie an sich riss. Nach einem Geldbeutel suchend, betatschte er sie von Kopf bis Fuß mit seinen schmutzigen, forschenden Fingern, nicht einmal ihre intimsten Stellen verschonte er, konnte aber nichts bei ihr finden. Er zog ihr die Schuhe aus und warf sie fort, als er sah, dass keine Münzen in ihnen versteckt waren.
Zwei wuchtige Fausthiebe trafen sie in den Magen. Nicci brach auf dem Boden zusammen. Einen deftigen Fluch in ihre Richtung speiend, stahl er sich im Schatten der Müllberge davon.
Auf ihre zitternden Arme gestützt, erbrach sich Nicci in das ölige Wasser, das unter den Abfallbergen hervorsickerte. An der Gasse vorüberkommende Passanten warfen einen Blick hinein und sahen sie würgend auf dem Erdboden liegen, schauten jedoch schnell wieder auf die Straße und gingen eilig ihres Weges. Einige sprangen kurz in die Gasse, bückten sich und sammelten das Brot aus dem umgestürzten Korb auf, bevor sie sich hastig aus dem Staub machten. Nicci keuchte, die Tränen brannten ihr in den Augen, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihre Knie bluteten, ihr Kleid war über und über mit Kot bespritzt.
Als sie in Tränen aufgelöst nach Hause kam, fing ihre Mutter bei ihrem Anblick an zu lächeln. »Das Elend der Menschen rührt auch mich manchmal zu Tränen.«
Nicci schüttelte den Kopf, dass ihre goldenen Locken von einer Seite auf die andere flogen, und erklärte ihrer Mutter, ein Mann habe sie
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