Schwester der Finsternis - 11
sich. »Nun, vielleicht könnte ich jemanden für das Beladen der Karren gebrauchen.«
»Er kann keine Karren beladen. Er hat einen schlimmen Rücken.
Er hat schon seit Jahren nicht mehr arbeiten können, weil ihm sein Rücken so zu schaffen macht.«
Ihr Vater senkte die Stirn. »Offenbar hat ihn sein schlimmer Rücken nicht daran gehindert, zehn Kinder zu zeugen.«
Nicci wollte unbedingt ein gutes Werk tun, daher erwiderte sie sein Starren mit einem ebenso festen Blick. »Musst du wirklich so intolerant sein, Vater? Du hast Stellen zu vergeben, und dieser Mann benötigt dringend eine. Seine Kinder hungern, sie müssen ernährt und mit Kleidung versorgt werden. Willst du ihm einen Broterwerb verwehren, nur weil er nie im Leben eine faire Chance hatte? Haben all dein Reichtum und dein Gold dich für die Bedürfnisse einfacher Menschen blind gemacht?«
»Aber ich brauche…«
»Musst du immer alles in Begriffen ausdrücken, die deine Bedürfnisse beschreiben, statt die anderer? Muss alles dir zum Wohl gereichen?«
»Es ist ein Geschäft…«
»Und welchen Zweck hat ein Geschäft? Besteht er nicht darin, denen Arbeit zu geben, die sie dringend brauchen? Wäre es nicht besser, der Mann hätte Arbeit, anstatt sich mit Betteln erniedrigen zu müssen? Willst du das? Willst du, dass er betteln muss, statt zu arbeiten? Bist du es nicht, der ständig selbst in höchsten Tönen von harter Arbeit spricht?«
Nicci feuerte die Fragen ab wie Pfeile, in so rascher Folge, dass er mit keinem Wort durch ihr Sperrfeuer drang. Ihre Mutter lächelte, als Nicci Formulierungen herunterbetete, die sie selbst auswendig kannte.
»Warum musst du dir die größten Grausamkeiten für die Unglücklichsten unter uns aufheben? Warum kannst du nicht ein einziges Mal darüber nachdenken, wie du helfen könntest, statt immer nur an Geld, Geld und nochmals Geld zu denken? Würde es dir wehtun, einen Mann einzustellen, der dringend eine Arbeit braucht? Würde es das, Vater? Würde es deinem Geschäft ein Ende machen? Würde es dich ruinieren?«
Das Zimmer hallte wider von ihren edelmütigen Fragen. Er starrte sie an, als sehe er sie zum ersten Mal. Er sah aus, als hätten echte Pfeile ihn getroffen. Sein Kinn bewegte sich, trotzdem brachte er kein Wort hervor. Er schien sich nicht bewegen zu können und vermochte sie bloß offenen Mundes anzustarren.
Niccis Mutter strahlte.
»Nun…«, meinte er schließlich, »vermutlich schon…«. Er nahm seinen Löffel auf und starrte in die Suppe. »Schick ihn vorbei, ich werde ihm Arbeit geben.«
Eine neue Art von Stolz – und Macht – erfüllte Nicci. Sie hatte bislang nicht geahnt, dass es so einfach sein würde, ihren Vater umzustimmen. Mit nichts anderem als ihrer Güte hatte sie über seine selbstsüchtige Natur gesiegt.
Vater stieß sich vom Tisch ab. »Ich … ich muss zurück in die Werkstatt.« Seine Augen wanderten suchend über den Tisch, er vermied es aber, Nicci oder ihre Mutter anzusehen. »Mir fällt gerade ein … ich habe noch Arbeit, um die ich mich kümmern muss.«
Nachdem er gegangen war, sagte Niccis Mutter: »Es freut mich zu sehen, dass du, statt seinen üblen Machenschaften nachzueifern, den Weg der Rechtschaffenheit eingeschlagen hast, Nicci. Du wirst es nie bereuen, dich in deinen Gefühlen von der Liebe zu Menschen leiten zu lassen. Der Schöpfer wird auf dich herablächeln.«
Nicci wusste, dass sie das Richtige, das Tugendhafte, getan hatte, dennoch trübte ein Gedanke ihren Sieg, der Gedanke an jene Nacht, als ihr Vater in ihr Zimmer gekommen war und ihr wortlos die Stirn gestreichelt hatte, während sie zwei seiner Finger an ihre Wange drückte.
Der Mann trat seine Stelle bei ihrem Vater an. Ihr Vater verlor nie eine Bemerkung darüber, wegen seiner Arbeit hatte er viel zu tun und war selten zu Hause, auch Niccis Arbeit nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Sie vermisste es, besagten Blick in seinen Augen zu sehen; vermutlich wurde sie langsam erwachsen.
Im nächsten Frühling, als Nicci dreizehn war, kam sie eines Tages von ihrer Arbeit in der Bruderschaft nach Hause, als sie eine Frau bei ihrer Mutter im Wohnzimmer sitzen sah. Irgendetwas im Verhalten dieser Frau bewirkte, dass sich Niccis Nackenhaare aufstellten. Die beiden Frauen erhoben sich, als Nicci ihre Liste mit den Namen der Bedürftigen beiseite legte.
»Nicci, Liebes, das ist Schwester Alessandra. Sie ist aus dem Palast der Propheten in Tanimura hierher gereist.«
Die Frau war älter als ihre Mutter. Sie
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