Schwester der Finsternis - 11
allerlei Interessantes aus ihrer Jugendzeit erinnern.
Schwester Lidmilas ledrige Haut spannte so fest über ihren Schädelknochen, dass sie Nicci vor allem an eine exhumierte Leiche erinnerte. So sehr die betagte Schwester auch einer wandelnden Mumie glich – sie näherte sich quer durch den Saal mit lebhaften, entschlossenen Bewegungen.
Als sie nur noch wenige Schritte entfernt war, hob Schwester Lidmila winkend einen Arm, als sei sie nicht ganz sicher, ob Nicci sie bemerken würde. »Schwester Nicci, Schwester Nicci, da seid Ihr ja.« Sie ergriff Niccis Handgelenk. »Kommt mit, meine Liebe. Kommt. Seine Exzellenz erwartet Euch. Hier entlang, so kommt doch.«
Nicci drückte die ziehende Hand der Schwester. »Geht nur voran, Schwester Lidmila. Ich werde Euch dicht auf den Fersen folgen.«
Die ältere Frau sah lächelnd über ihre Schulter. Das Lächeln war weder freundlich noch erfreut, eher ein Zeichen der Erleichterung. Jagang bestrafte jeden, der sein Missfallen erregte, unabhängig davon, ob er sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen.
»Was hat Euch so lange aufgehalten, Schwester Nicci? Seine Exzellenz ist ziemlich aufgebracht wegen Euch. Wo habt Ihr nur gesteckt?«
»Ich hatte … noch Geschäfte zu erledigen.«
Für jeden von Niccis Schritten musste die Frau deren zwei oder drei machen. »Geschäfte, wenn ich das höre! Hätte ich etwas zu sagen, ich würde Euch dafür, dass Ihr Euren Vergnügungen nachgeht, wenn man Euch braucht, unten in der Küche Töpfe schrubben lassen.«
Schwester Lidmila war altersschwach und vergesslich, und gelegentlich entfiel ihr, dass sie nicht mehr im Palast der Propheten weilte. Jagang benutzte sie, um Leute abzuholen oder um auf sie zu warten und ihnen den Weg – gewöhnlich zu seinen Zelten – zu zeigen. Sollte sie den Weg vergessen, konnte er, falls nötig, ihren Kurs noch immer korrigieren. Es amüsierte ihn, eine ehrwürdige Schwester des Lichts – eine Hexenmeisterin, die in dem Ruf stand, Kenntnis von den geheimsten Zauberformeln zu haben – für etwas so Erniedrigendes wie Botengänge einzuspannen. Weit weg vom Palast und seinem Bann, das Altern zu verhindern, bewegte sich Schwester Lidmila Hals über Kopf immer schneller in Richtung Grab. Das galt für alle ihre Gesinnungsgenossinnen.
Die gebeugte Schwester schlurfte, mit ihren freien Armen rudernd, vor Nicci her, zerrte sie an ihrer Hand durch prachtvolle Säle, über Treppenfluchten und durch Korridore. Schließlich blieb sie vor einer mit vergoldeten Zierleisten eingefassten Tür stehen und legte, nach Atem ringend, ihre Finger an die Unterlippe. Ernstgesichtige, im Korridor herumlungernde Soldaten überschütteten sie mit Blicken, so düster wie ihr Kleid. Sie identifizierte die Männer als kaiserliche Gardetruppen.
»Hier ist es.« Schwester Lidmila sah hoch zu Nicci. »Seine Exzellenz weilt in seinen Gemächern. So beeilt Euch doch. Geht schon, geht.« Sie fuchtelte mit den Händen, als wollte sie Vieh zusammentreiben. »Nun geht schon hinein.«
Vor dem Eintreten nahm Nicci ihre Hand noch einmal vom Griff und wandte sich zu der alten Frau um. »Schwester Lidmila, Ihr sagtet einmal, das Wissen, das Ihr zu vererben habt, sei bei mir am besten aufgehoben.«
Ein listiges Schmunzeln ließ Schwester Lidmilas Gesicht aufleuchten. »Sieh da, fangt Ihr endlich an, Euch für einige der okkulteren Zaubereien zu interessieren, Schwester Nicci?«
Nicci hatte sich zuvor noch nie für irgendwelche Dinge interessiert, die ihr Schwester Lidmila gelegentlich hatte aufnötigen wollen. Magie war eine egoistische Beschäftigung. Nicci lernte, was sie lernen musste, unternahm aber nie besondere Anstalten, darüber hinauszugehen, zu den eher ungewöhnlichen Bannen.
»Ja. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, ich bin endlich so weit.«
»Ich habe der Prälatin stets gesagt, Ihr seid die Einzige im Palast, die für die Zaubereien, die ich beherrsche, die erforderliche Kraft besitzt.« Die Frau beugte sich näher. »Und diese Zaubereien sind gefährlich.«
»Dann solltet Ihr sie weitergeben, solange Ihr noch dazu im Stande seid.«
Schwester Lidmila nickte zufrieden. »Ich denke, Ihr seid alt genug, ich könnte sie Euch zeigen. Wann?«
»Ich werde Euch aufsuchen … morgen.« Nicci warf einen Blick auf die Tür. »Ich glaube, heute Abend kann ich keinen Unterricht mehr nehmen.«
»Dann also morgen.«
»Falls ich Euch … morgen tatsächlich aufsuchen sollte, werde ich ganz versessen darauf sein, etwas zu lernen.
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