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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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einen jungen Mann zu packen, der sich hinter Philip verborgen hielt. Er war ein paar Zentimeter kleiner als Philip; lose Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht, in dem die Andeutung eines Schnauzers auszumachen war. In den Händen hielt er eine Damenhandtasche, die so gar nicht zu ihm passen wollte.
    »Haben wir dich!«, sagte einer der beiden Beamten.
    Philip stieß die Luft in einem Stoßseufzer aus den Lungen. Das war noch einmal gut gegangen.
    »Gehen Sie zur Seite«, meinte der andere Polizist. Er schob Philip beiseite, eine routinierte, aber energische Geste. Eine intensive Berührung.
    »Nein!«, entfuhr es Philip ächzend. Bitte nicht.
    Die Gesetzeshüter brachten den Dieb zum Streifenwagen. Einer der beiden Polizisten öffnete den Fond. Der Junge leistete keinen Widerstand. Er blies sich eine Strähne lässig aus dem Gesicht. Die Verhaftung ließ ihn unbeeindruckt. Er griff mit einer unmerklichen Bewegung in die Innentasche seiner Jacke. Ein Messer kam zum Vorschein, eisig glatt wie der Schnee, der am Straßenpflaster haftete. Er riss es hoch und fuchtelte vor dem Gesicht des Polizisten herum…
    Sein Blick klärte sich. Die Beamten hatten den Platz bereits zur Hälfte überquert. Der junge Übeltäter lief in ihrer Mitte, unbeschwert und frohen Mutes, als wäre alles nur ein großer Irrtum. Oder eine Frage der Zeit. Ein weiteres Mal lief der Film vor Philips Augen ab, nur diesmal war es keine Vision, diesmal war es Wirklichkeit. Noch hatte er die Chance einzuschreiten. Aber zu welchem Preis? Wenn er schwieg, würde er mit dem Wissen leben müssen, dass er womöglich ein Menschenleben hätte retten können.
    »Passen Sie auf!«, rief er. Es war nur ein heiseres Röcheln, aber es genügte, dass einer der beiden Polizisten ihm Aufmerksamkeit schenkte. Er blickte über die Schulter zurück auf Philip, der im Schnee hockte. Er runzelte die Stirn. Philip rang um Luft.
    Eine ältere Dame beugte sich zu ihm herab und versperrte die Sicht. »Ist Ihnen nicht gut?« Sie berührte ihn an der Schulter. Die nächste Welle rauschte heran.
    »Fassen Sie mich nicht an!«, schrie er.
    Die Frau zuckte zurück. Erschrocken starrte sie ihn an. Philip machte die beiden Polizisten aus, die jetzt stehen geblieben waren. Argwöhnisch blickten sie in seine Richtung.
    »Der Junge… er hat ein Messer!«, warnte er sie und richtete sich auf. Er sah, wie einer der beiden Uniformierten die Taschen des Jungen untersuchte, während der andere nach wie vor skeptisch Philip nicht aus den Augen ließ.
    Philip wischte sich den Schnee von der Cordhose. Geh weiter. Er machte einen Schritt.
    »Junger Mann, warten Sie bitte!«, forderte der Beamte scharf.
    Aus den Augenwinkeln bekam Philip mit, wie ein glänzender Gegenstand zutage befördert wurde. Erleichtert taumelte er davon. Dankbar nahm er zur Kenntnis, dass wieder Schneeflocken vom Himmel trudelten. Sie machten ihn unsichtbar für die Polizei. Es trieb die Menschen von den Straßen. Er war in Sicherheit. Mit diesem Gedanken lief er weiter, bis er die Pannierstraße 82 erreichte. Langsam fand er zur Normalität zurück.
    Für einen Augenblick betrachtete er das Gebäude. Es unterschied sich nicht wesentlich von den anderen in Neukölln. Die Fassade war vom jahrzehntelangen Verkehr aschgrau geworden, von den Besitzern dem Verfall preisgegeben, einzig die Backsteine im Erdgeschoss trugen Farbe: kryptische Graffiti in grellem Grün und Blau. Nicht mehr lange, und der Schnee würde sein weiches Fell gnädig darüber ausbreiten.
    Die Flocken rieselten immer stärker vom Himmel. Der Wind fraß sich mit eisigen Zähnen in die Haut, die nicht unter Kleidung verborgen war. Weil die Eingangstüre nur angelehnt war, gelangte Philip ohne klingeln zu müssen in den Hausflur. Schnee wirbelte wie Staub am Boden. Seine Füße verhedderten sich in einem Werkzeugkoffer, den ein Handwerker zurückgelassen hatte. Das Dröhnen eines Hammers hallte durch das Gebäude.
    Er blickte im Treppenhaus nach oben. Niemand war zu sehen. Ohne lange zu überlegen, griff er in die Werkzeugkiste und entnahm ihr einen Schraubenzieher und Schraubenschlüssel. Das würde helfen. Die beiden Werkzeuge presste er in die Innentasche der Daunenjacke. Nach Mord und Flucht ist Diebstahl sicher nur noch ein Kavaliersdelikt.
    Er passierte die rostigen Briefkästen im Erdgeschoss, die an der Wand lehnenden Fahrräder und stieg die Stufen ins erste Geschoss hinauf. Vier Türen, von denen sich jeweils zwei gegenüberlagen. Drei besaßen ein

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