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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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zwischen Kühlschrank und Waschmaschine. Das deckenhohe Fenster am Ende des Raumes wies auf den Innenhof, eingekreist von vier Hausmauern, überdeckt mit einem goldgelben Quadrat, dem Berliner Nachthimmel.
    Vor dem Fenster stand eine Gestalt. Der Mann war schwarz ummantelt, das Gesicht hinter den hohen Aufschlägen verborgen.
    »Diesmal krieg ich dich«, knurrte Philip und tastete nach dem Lichtschalter. Die nackte Glühbirne an der Zimmerdecke flammte auf. Zweierlei passierte: Die plötzliche Helligkeit blendete ihn, und er presste die Augenlider zu einem schmalen Schlitz zusammen. Und als sich seine Pupillen an das Licht gewöhnt hatten, wirkte die Glasscheibe wie ein Spiegel. Er sah nur sich selbst, einen gehetzt blickenden jungen Mann in tuntigen Klamotten. Dafür konnte der unbekannte Gast ihn umso besser sehen.
    »Suchst du was?« Ken schlürfte verschlafen in die Diele. Er trug seinen hautengen Adidas-Jogginganzug.
    Philip knipste das Licht wieder aus, aber nicht weil er den Anblick von Ken in seinem Jogger nicht ertragen konnte. Er wollte sich vergewissern, ob sich der geheimnisvolle Fremde noch im Innenhof befand. Aber der Garten war leer. Nichts anderes hatte er erwartet.
    »Da war jemand«, sagte er und bemühte sich, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben.
    »Gut möglich«, bestätigte Ken. »Der Garten ist für alle Anwohner da.«
    »Nein«, widersprach Philip. »Da war jemand am Fenster.«
    »An meinem Fenster?« Ken rieb sich ungläubig die Augen. »War wohl jemand neugierig.«
    Philip durchquerte die kleine Küche und stieß sich den Oberschenkel am Cocktailtisch. Ein Glas fiel um, kullerte über den Rand und zerschepperte auf den Fliesen.
    »Scherben bringen Glück«, ließ sich Ken vernehmen. Aus einem Schrank holte er Handbesen und Kehrblech und fegte die Scherben weg.
    »Ken«, sagte Philip.
    »Was?« Sein Kumpel entleerte das Kehrblech mit einem Klirren in den Abfalleimer.
    »Mach mal das Licht an!«
    Ken betätigte den Lichtschalter. Philip hatte das Fenster geöffnet und schaute angestrengt in den Garten. »Bist du bescheuert? Soll ich mir den Tod holen? Mach das Fenster zu!«
    »Nein, warte. Komm her!«
    »Mann, ist das scheißekalt da draußen.« Ken stellte sich neben ihn. Philip rückte ein Stück zur Seite. Ken entging die Bewegung nicht. »Was hast du?«
    »Nichts.« Philip wies mit übertrieben hastiger Geste auf den Schnee am Boden vor dem Fenster. »Schau!«
    »Tatsächlich«, meinte Ken erstaunt. Klar und deutlich zeichneten sich im Licht der Glühbirne Fußspuren ab. Jemand hatte sich vor dem Fenster aufgehalten, war dann quer durch den Garten gelaufen und in einem Hintereingang schräg gegenüber verschwunden. »Du hast Recht. Da war jemand.«
    »Und er hat was zurückgelassen«, fügte Philip hinzu. Er streckte seinem Freund die Hand mit der Innenfläche nach oben hin. Zwei Münzen lagen drin.
    »Zwei Euro.«
    »Nicht irgendwelche Euros.«
    »Sondern?«
    »Schau sie dir an.«
    Ken wollte danach greifen. Philip zuckte zurück. »Mach die Hand auf«, sagte er.
    Sein Kumpel blickte ihn verwundert an. »Was ist los mit dir?«
    »Nun mach schon!«, drängte Philip.
    Ken hielt ihm die offene Handfläche hin, doch sein Blick sprach Bände. Hast du sie noch alle?
    Philip ließ eine Münze hineinfallen. Sein Freund hielt sie sich vor die Augen. »Leonard da Vinci«, sagte er. »Das kenne ich. Darüber hab ich gelesen, in einem Roman. Sakrileg von Dan Brown. Chris kann dir bestimmt mehr dazu sagen. Die studiert doch Kunst.«
    »Das ist ein italienisches Geldstück.« Philip rief sich zurück ins Gedächtnis, was der Kurier-Archivar Friedbert Steckner ihm erzählt hatte. »Das ist L’uomo, das Bildnis eines Mannes, mit dem da Vinci 1492 den goldenen Schnitt darstellte.«
    »Aha«, sagte Ken. Er blickte ihn mit trüben Augen an. »Offen gestanden, für diese Tageszeit ist mir das zu hoch.«
    »Der goldene Schnitt, das ist die anatomisch genaueste Darstellung des Menschen, sie soll noch viele Geheimnisse in sich tragen. Unter anderem auch die Quadratur des Kreises.«
    »Hä?«
    »Das Mögliche im Unmöglichen.«
    »Weißt du, dass du gerade unmöglichen Bockmist erzählst?«
    »Nein, Ken, darum geht es doch. Um das Mögliche im Unmöglichen. Das ist genau das, was mir gerade passiert. Und soll ich dir was verraten?«
    »Wenn’s denn sein muss.«
    »Jemand will mir etwas mitteilen.«
    »Mit zwei Münzen?«
    »Ich habe vor ein paar Tagen schon einmal eine Münze erhalten.« Die lag jetzt

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