Schwester Lise
geworden. Die Frau, um derentwillen er das Opfer auf sich genommen hatte, hatte versagt.
Er hatte sich nach dem bösen Heiligabend noch nicht mit ihr ausgesprochen. Es war an ihr, sich zu erklären, sich für ihr Benehmen an jenem Abend zu entschuldigen und zu sagen, was nun werden sollte: Ob sie noch einmal versuchen wollte, sich mit diesem Dasein auseinanderzusetzen - oder ob sie es vorzöge, ihre gemeinsamen Pläne aufzugeben und wieder in den Süden zurückzukehren?
Halfdan war nicht sicher, wie sie entscheiden würde. Wenn sie ihn wirklich liebte, würde sie ihn nicht verlassen, zumal sie wissen mußte, wie sehr auch er sie liebte. Trotzdem fand er noch heute keine Antwort auf die Frage, wie sie es fertigbringen konnte, so herzlose Worte zu sagen, und es schmerzte ihn immer wieder aufs neue, wenn er an diese Szene zurückdachte. Seit jenem Abend tat er das einzige, was ihm übrigblieb: Er war höflich und zuvorkommend zu ihr - und wartete. Kam sie zu einer Tür herein, begegneten sie sich auf der Treppe oder bei den Mahlzeiten, wartete er, ob sie wohl sprechen wollte. Jetzt mußte sie doch endlich zu ihm kommen, ihre Hand auf die seine legen und sagen - ja, was würde sie wohl sagen? „Laß uns wieder gut sein, Halfdan“ - nein, sie würde sagen: „Verzeih mir, sei nicht mehr böse“ - oder: „Halfdan, darf ich nicht mal mit dir sprechen - oder - oder - “
Die Tür ging. Halfdan fuhr zusammen. War jetzt der Augenblick gekommen? Würde jetzt endlich reiner Tisch zwischen ihnen gemacht werden?
„Bitte, Halfdan, das Essen ist fertig.“
„Danke, Eirin. Ich komme.“
Eirin machte allein einen Spaziergang. Sie ging wie gewöhnlich zum Landungssteg hinunter. Dort gab es allerlei zu sehen. Der Steg war umgebaut und verlängert worden. Jetzt konnte der Schnelldampfer anlegen, und die umständliche Umsteigerei in das Motorboot war nicht mehr nötig.
Sie stand am Ende des Stegs und starrte auf die graue See hinaus. Der Anblick der schwarzen Wasserwüste und des ewig verhangenen Himmels machte sie noch trostloser, als sie es so schon war.
Wie lange sollte das so weitergehen? Würden sie jemals wieder so glücklich sein können wie vor drei Monaten? Ihr war, als habe sie in diesen drei Monaten ein ganzes Leben hinter sich gebracht, ein Leben voller Arbeit, voller Sorgen, Freuden und Enttäuschungen, ein Leben voller Kampf und Niederlagen.
Warum fand Halfdan kein gutes Wort? Sie hatte doch um Verzeihung gebeten - an jenem eiskalten Weihnachtsmorgen, als sie in seinem Sprechzimmer stand und auf einen Zettel „Verzeihung“ schrieb. Er aber tat, als wüßte er gar nichts davon.
War ihr Verhalten wirklich so unverzeihlich? Oder - war Halfdan so enttäuscht von ihr, daß er es einfach nicht fertigbrachte, mit ihr zu sprechen? Wollte er sie los sein?
Eirin lief auf dem Landungssteg hin und her.
Nein, so ging es nicht weiter. Sie konnte einfach nicht mehr. Eine Aussprache mußte herbeigeführt werden. Noch heute abend würde sie zu ihm gehen, wenn er in seinem Sprechzimmer saß. Sie mußte hineingehen und versuchen, mit ihm ins reine zu kommen.
Halfdan war auf Krankenvisite, als sie nach Hause kam. Er sei nach Skaerviken gefahren, sagte Tante Bertha. Dann blieb er lange fort.
Eirin machte eine Platte Schnitten für ihn zurecht und setzte die fertige Fleischbrühe in der kleinen Kasserole auf den Spirituskocher. So konnte er sich selbst bedienen, wenn er spät in der Nacht nach Hause kam.
Halfdan saß im Motorboot. Es war halb zwölf. Auf diesem Heimweg hatte er sich entschlossen, mit Eirin zu sprechen, wenn sie aufgeblieben war und auf ihn wartete. Sie hatten ihre ganze Zukunft auf ihre Liebe gebaut. Diese Zukunft durfte an ein paar unbedachten Worten ebensowenig scheitern wie an ihrer beider Dickköpfigkeit.
Aber Halfdan kam in ein finsteres und stilles Haus. Eirin war ins Bett gegangen.
Und so kam es, daß sie beide eine schlaflose Nacht verbrachten, jeder in seinem Giebelzimmer; eine Nacht, in der sie beide dalagen und sich mit dem gleichen Gedanken herumschlugen: Morgen müssen wir uns aussprechen.
Am nächsten Morgen überstürzten sich die Ereignisse. Halfdan wurde in aller Frühe zu einem Kranken gerufen und eilte aus dem Haus. Als er zurückkehrte, war das Wartezimmer überfüllt.
Tante Bertha erhielt den Bescheid, sie möchte bei Hanna Fjellhammer hereinschauen; Hanna läge krank; den Doktor wolle man nicht behelligen, es sei bloß der Hexenschuß, und Hanna wüßte schon, was sie dagegen
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