Schwester Lise
machen müßte; aber sie brauche jemanden, der nach den Kindern sähe, bis die Schwester zur Aushilfe eingetroffen sei.
Tante Bertha war in schwierigen Fällen die Zuflucht von ganz Frostviken.
Halfdan war nach der schlaflosen Nacht und dem frühen Krankenbesuch müde, abgehetzt und nervös.
Auch Eirin fühlte sich übernächtigt. Ihr Gefühl sagte ihr, daß heute etwas geschehen würde, und als plötzlich draußen auf dem Flur das Trampeln vieler schwerer Stiefel vernehmbar wurde, erschrak sie heftig. Ein Unfall, durchfuhr es sie. Als sie hinauseilte, sah sie flüchtig ein totenblasses Gesicht. Sie pochte an die Tür des Sprechzimmers. „Halfdan - ein Unglück ist geschehen!“ Wieder hörte sie das Schlurfen der schweren, nassen Stiefel. Ein Körper wurde auf das Krankenbett im Sprechzimmer gelegt. Dann tappten die Stiefel schwerfällig wieder hinaus. „Eirin, komm herein und hilf mir!“ Sie flog sofort hinüber, zitterte aber am ganzen Leibe. Ausgerechnet heute sollte sie Halfdan zur Hand sein! Müde und zerschlagen, wie sie war, ahnte sie gleich, daß sie nicht durchhalten würde. Schon das Stöhnen des bleichen Mannes auf dem Krankenbett tat ihr in den Ohren weh, und der Anblick seines schmerzverzerrten Gesichtes ließ ein beklemmendes Gefühl und Übelkeit in ihr hochsteigen.
„Hol die Schachtel mit den Morphiumampullen! Und die kleine Spritzenein, die nicht, gib mir den ganzen Sterilisator!“ Eirin brachte das Verlangte. Halfdan schnitt dem Verunglückten die Kleider vom Leibe. Jetzt erst konnte Eirin ihn richtig sehen.
Das rechte Hosenbein war zerfetzt. Hoch oben am Oberschenkel stach etwas hervor - Eirin starrte darauf - weiße Knochensplitter! -Der Schenkelknochen war zersplittert und stak heraus. Das Blut strömte, breitete sich aus, bildete einen dicken, nassen Fleck, der von dem Zeug aufgesogen wurde.
Eirin wurde es schwarz vor den Augen. Sie merkte noch, wie Halfdan einen Arm des Mannes entblößte, um ihm eine Morphiumspritze zu geben. Sie starrte noch einmal wie hypnotisiert auf den zersplitterten Knochen, stieß einen Schrei aus, der Behälter mit den sterilen Spritzen entglitt ihren Händen und fiel klirrend zu Boden.
„Ich kann nicht!“ schrie sie. „Ich kann das nicht - nein - nein!“ Halfdan war ebenso weiß im Gesicht wie der Mann auf dem Ruhebett.
„Hysterisches Frauenzimmer!“ stieß er hervor. „Mach, daß du rauskommst, du verhätschelte Zimperliese! Raus mit dir, sag ich!“
Eirin warf die Schachtel mit den Ampullen fort und stürzte, von Tränen geblendet, aus der Tür.
Sie rannte in ihr Schlafzimmer hinauf, warf sich aufs Bett und weinte und tobte. Diese Blamage! Sie schämte sich so, daß sie sich am liebsten verkrochen hätte. Um ihre eigenen Gedanken auszusperren, bohrte sie die Finger in die Ohren. Gleich darauf riß es sie wieder hoch. Sie stürzte zum Toiletteneimer und erbrach sich. Der Ekel schüttelte sie.
Wimmernd schleppte sie sich zum Bett zurück. Allmählich wurde sie ruhiger. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, starrte sie zur Zimmerdecke hinauf. Tief in ihrem Innern spürte sie einen dumpfen, schweren Schmerz, der sie gleichgültig machte gegenüber allem, was geschehen war. Fast schien es ihr, als sei alles nur ein böser Traum gewesen, ein Traum wie viele andere, die sie in den letzten Tagen geträumt hatte. -
Ein schriller Ton ließ sie auffahren.
Die Schiffspfeife! Das Ankunftssignal des Küstenschnelldampfers!
Eirin war im Nu hellwach. Richtig, heute ging der Dampfer nach dem Süden! War das ein Zeichen, ein Wegweiser aus dem Irrgarten, in dem sie sich befand?
Eirin überlegte nicht lange. Sie handelte blitzschnell, fast mechanisch, von einer Macht getrieben, die sie selbst nicht begriff. Sie warf Toilettensachen, einen Pyjama, ein Kleid und ein Paar Schuhe in einen kleinen Koffer. Aus der Kommoden-Schublade nahm sie den Umschlag mit dem Bankbuch und alle Dokumente, den
Taufschein und den Impfschein und - nein, nicht denken, nur weg, weg!
Sie ergriff die Geldbörse mit dem, was sie in bar besaß. Sie riß eine Seite aus dem Notizbuch und schrieb ein paar eilige Worte darauf. Den Zettel legte sie auf Tante Berthas Toilettentisch und rannte davon, aus dem Hause hinaus, den Richtweg hinunter, den kleinen Steig - den konnte man vom Sprechzimmer aus nicht überblicken. Dann eilte sie auf dem kürzesten Weg zum Landungsplatz, wo das Dampfschiff eben angelegt hatte.
„Wollen Sie verreisen, Fräulein Johnsen?“ Es war die Marja von der
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