Schwester Lise
wir uns dann ärgern, und worüber sollten wir uns noch unterhalten?“
„Das schlimmste ist, daß sie uns alle miteinander verdirbt“, erklärte Inga. „Wenn Lise später mal Stationsschwester ist, wird sie alle Schülerinnen ,hinter’ sich gehen lassen, ihr sollt mal sehen - “ „Ich werde nie Stationsschwester“, unterbrach Eirin sie. „Da brauchst du keine Sorge zu haben, Inga.“
„Warum solltest du nicht mal Stationsschwester werden?“
Eirin antwortete nicht gleich. Ihr Herz begann zu klopfen. Weshalb sollte sie nicht Stationsschwester werden? Weil sie Halfdan heiraten würde, weil sie seine rechte Hand, seine Kameradin und Helferin werden und Kinder mit ihm bekommen würde - einen kleinen Jungen mit Halfdans blauen Augen und ihren eigenen schwarzen Locken, ein kleines Mädchen, das auf Halfdans Schultern ritt -, ach, aber die Wartezeit war so lang. Drei ganze Jahre! Und sie hatte das erste gerade angefangen!
Das Summen und Schwirren um sie her versank. Sie hörte es nicht mehr. Sie war in Frostviken. Jetzt war es heller da oben, ganz hell. Bald leuchtete die Mitternachtssonne. Dann mußte es dort schön sein. Jetzt saß Tante Bertha am Fenster im Wohnzimmer und stopfte Strümpfe. Und wenn Halfdan nicht gerade Besuche machte, brütete er wohl im Sprechzimmer am Mikroskop über seinen ewigen Präparaten. Wer machte wohl jetzt die Laborarbeit? Schlug er sich selbst mit all den kleinen Farbflaschen herum? Kochte er selbst die Instrumente aus? Wer wischte den Fußboden im Wartezimmer - und wer leerte den Erzfeind?
Eirin erhob sich.
„Ich glaube, ich bin doch müde. Seid ihr böse, wenn ich gehe? Mein Rücken tut’s einfach nicht mehr, wißt ihr?“
Sie hielten sie nicht zurück. Es gab keine unter ihnen, die nicht selbst erlebt hätte, wenn ein Rücken vor Müdigkeit fast in der Mitte durchknickte. Sie kannten das nervöse Kribbeln in den Beinen, das sich nur heilen ließ, indem man sich lang ausstreckte und die Füße hochlegte.
Eirin nahm Briefpapier und Füller mit ins Bett. Und die Feder flog über das Papier. Heiße Worte, Sehnsucht und Tränen, ängstliche
Fragen, alles das mischte sich zu einem Liebesbrief, über den Halfdan vor Glück einen Luftsprung gemacht hätte - wenn er ihn je bekommen hätte.
Aber er bekam ihn nicht! Denn sie warf ihn am nächsten Morgen in den Müllschacht - und rackerte weiter.
13
Oslo war tatsächlich eine Großstadt. Eirin stellte mit Genugtuung fest, daß sie sich hier versteckt halten konnte. Nicht ein einziges Mal hatte sie einen ihrer früheren Bekannten wiedergetroffen. Ein paar Schulfreundinnen war sie wohl auf der Straße begegnet und hatte sie flüchtig begrüßt, aber keinem aus dem alten Freundeskreis. Es war auch vielleicht nicht so sonderbar. Oskar und Cilly saßen in Trondheim, einer der jungen Ärzte hatte am Ostrande der Stadt eine Praxis aufgemacht, zwei andere waren nach auswärts verzogen. Die Freundinnen gingen wohl zu ihren Büros und wieder nach Hause, und ihr Weg führte sie nie in die Gegend, in der Eirin lebte.
Ihr war es nur recht so. Nach ihrem Versagen und nach ihrer Flucht hatte sie beschlossen, sich zu verstecken und sich nicht eher wieder zu zeigen, bis sie ihre Selbstachtung wiedergewonnen hatte, das hieß, bis sie Krankenschwester war, mit einem vollgültigen Examen. Darum hatte sie auch ihren Namen gewechselt. Es gab keine Schwester Eirin, und eine kleine Schwester Lise - nun, deren gab es viele überall.
Ihre freien Tage verbrachte sie mit Inga, Doris und Ilse. Sie kamen alle vier gut miteinander aus. Besonders von der sanften, reizenden Ilse fühlte sich Eirin angezogen. Ihre Eltern waren geschieden; sie hatte bald bei ihrem Vater, bald bei der Mutter gewohnt, sich aber fremd und unbehaglich gefühlt, wo sie auch war. Dann heiratete die Mutter wieder. Der Vater reiste für eine große Firma und war fast nie zu Hause. Ilse war einsam. Sie hatte nur den Tag herbeigesehnt, an dem sie alt genug wäre, als Lernschwester in die Krankenpflege zu gehen. Sie war die Jüngste in der Gruppe.
Ilse fühlte sich im Krankenhaus wohl. Sie schaffte die harte Arbeit gut, obwohl sie klein und schmächtig war. Die Patienten liebten sie. Keine war so sanft und geduldig, keine so gütig und verständnisvoll wie Schwester Ilse. Doris sprudelte über vor Heiterkeit. Viele Patienten mochten das gern, aber manche fanden auch, sie habe ein zu loses Mundwerk und sei an einem Krankenbett nicht ernsthaft genug. Inga war stark und robust, tüchtig
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