Schwester Lise
das Kissen aufschüttelte oder sie nur fragte, wie es ihr gehe, lächelte sie mit großen blauen Augen und bedankte sich.
Es tat Eirin in der Seele leid, Frau Ervik wecken zu müssen, wenn die Morgenarbeit einsetzte. Sie schlief dann fest, die Ärmste, und vielleicht war sie eben erst eingeschlafen.
„Die Nächte sind so lang“, sagte Frau Ervik. „Ich kann vor Morgengrauen einfach nie einschlafen - und dann kommen Sie an und wollen mich waschen!“
„Ja, es ist abscheulich“, gab Eirin zu. „So ist nun einmal die Krankenhausordnung. Da gibt es kein Gefackel.“
Frau Ervik seufzte und griff sich an die Schläfen. „Ach, Schwester Lise, können Sie begreifen, daß die Ärzte nicht rauskriegen, was mir fehlt? Heute nacht hatte ich wieder so schreckliche Herzschmerzen - es ist, als ob ein Dolch bohrte und bohrte -, ich dachte tatsächlich, es ginge zu Ende - “
„Aber haben Sie denn nicht geläutet, Frau Ervik?“
„Doch, natürlich, die Nachtschwester kam auch, und ich bat sie, den Arzt zu rufen; aber sie wollte nicht. Ich hätte unter ihren Händen sterben können, dann hätte sie allein mit der Verantwortung dagesessen. Ich glaube, sie hatte Angst, den Arzt zu wecken. Schwester Lise, gehört es auch zur Krankenhausordnung, daß die Patientinnen eher sterben müssen, als daß der Arzt geweckt wird?“ Lise errötete im Namen des Krankenhauses und der Nachtschwester. Wer hatte Nachtdienst? Ach ja, Doris war es! Ob sie nicht mal mit Doris reden und ihr sagen sollte, sie möge gefälligst ihren gesunden Menschenverstand zusammennehmen und die Patienten nicht leiden lassen aus lauter Respekt vor dem Arzt?
Am selben Nachmittag klingelte Frau Ervik wieder, und Eirin rannte hin. Frau Ervik war noch bleicher als sonst und hielt die Hände gegen das Herz gepreßt.
„Ach Schwester Lise - gut, daß Sie gekommen sind -, liebste Schwester Lise, läuten Sie meinen Mann an - nein, nicht den Arzt, ich will Ruhe haben - aber ich möchte so gern meinen Mann sehen -bitten Sie ihn zu kommen - sofort, sagen Sie ihm, sofort!“
Eirin stürzte ans Telefon. Aber bei Erviks antwortete niemand. Verzweifelt kehrte sie wieder zu der Patientin zurück.
Frau Ervik lag jetzt ganz still. Große Tränen rannen ihr über die Wangen.
„Ich dachte es mir“, flüsterte sie. „Ich habe es schon lange durchschaut. Er wollte, daß ich ins Krankenhaus kam, um - ach - “ Sie schluchzte herzzerreißend. Eirin wußte nicht, was sie tun sollte. Sie floß über vor Mitleid. Schließlich ließ sie alle Vorschriften Vorschriften sein, sie tat, was sie bei einer zutiefst unglücklichen Freundin getan haben würde: Sie setzte sich auf den Bettrand und legte den Arm um die kleine Frau Ervik. Diese lehnte sich willig an Eirins Schulter und schluchzte fassungslos.
„So, so“, flüsterte Eirin beschwichtigend. „Jetzt seien Sie mal brav, Frau Ervik. Sie müssen versuchen, ruhig zu sein, wenn Sie wieder gesund werden wollen. Wenn Sie glauben, daß es Ihnen hilft, sich auszusprechen, dann tun Sie es ruhig - ich vergesse es wieder, ich sage es keinem Menschen.“
Frau Ervik hörte allmählich auf zu weinen. Dann erzählte sie unter Tränen von ihrer trübseligen Ehe, wie ihre Gesundheit immer mehr untergraben wurde, wie wenig ihr Mann sie verstand und wie er sie zuletzt geradezu ins Krankenhaus abgeschoben habe, um für sich zu sein und zu Hause nach Belieben kommen und gehen zu können. Und sie lag hier hilflos.
Eirin verging vor Empörung und Mitleid. Armes Geschöpf. Da war die Frau ja vom Regen in die Traufe gekommen! Denn hier konnte sie für ihren Kummer wirklich kein Verständnis finden. Hier war alles gleich kalt, gleich hart, gleich sachlich - von den weißen Wänden angefangen bis zu den Ärzten, von dem weißlackierten, hohen, ungemütlichen Krankenhausbett bis zu dem kühlen Blick der Oberschwester.
„Und hier sind alle so gleichgültig gegen mich“, flüsterte Frau Ervik an Eirins Schulter.
„Frau Dr. Claussen ist so nett“, erklärte Eirin. „Sie ist ein prachtvoller Mensch, wenn sie auch vielleicht nicht so warmherzig ist. Es braucht aber nicht immer so zu sein, daß ein guter Arzt auch auf solche Belange eingeht, verstehen Sie das?“
Frau Ervik lauschte aufmerksam mit tränennassen Augen.
„Und Dr. Kjeller, der Assistent?“
„Ach, der, der ist ja nur ein großer Junge“, sagte Eirin. „Ist er etwa ruppig gegen Sie gewesen? Das müssen Sie sich nicht zu Herzen nehmen. Das wird er sich schon noch abgewöhnen,
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