Schwester Lise
Sie jedenfalls vorläufig nicht mehr in der Abteilung sehen. Sie gehen auf der Stelle!“
Eirin blieb stumm. Sie zitterte wie Espenlaub. Sie wußte nicht mehr, wie sie den Flur hinuntergekommen war. Schwester Inga, die ihr begegnete, erschrak über das kreideweiße Gesicht und die starren Augen. Sie wollte etwas zu ihr sagen, merkte aber gleich, daß Schwester Lise sie gar nicht hörte.
Die Oberschwester kam ihr entgegen.
„Verzeihung, Oberschwester - ist irgend etwas mit Schwester Lise los?“
„Ja“, sagte die Oberschwester hart. „Ich habe sie von der Abteilung gewiesen, und sie wird kaum wiederkommen.“
Sie ging mit festen Schritten weiter, und Schwester Inga blieb stehen, ein Tablett mit Spuckschalen in den Händen, und bekam den Mund nicht wieder zu.
Eirin wußte nicht, was sie mehr quälte: die Angst, daß Halfdan sie nun endgültig im Stich gelassen hatte - oder die Aussicht, vom Krankenhaus verwiesen zu werden. Als Krankenschwester war sie erledigt, das wußte sie. In diesen letzten fünf Minuten war so viel Furchtbares geschehen, daß sie nichts mehr begriff. Sie war wie betäubt, gelähmt - alles war ihr gleichgültig. Jetzt mochte geschehen, was wollte. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.
Sie stieg die Treppe hinauf, blieb stehen und starrte auf das Schild mit dem Pfeil „Zur medizinischen Abteilung“.
Medizinische Abteilung! Dort hatte sie ihre bittersten Tränen geweint und ihre größten Freuden erfahren, seit sie mit der Krankenpflege anfing. „Ihre“ Abteilung! Dort hatte eine Schwester Eldrid sie geschunden und Frau Dr. Claussen ihr geholfen. Niemals würde sie wieder über diesen Korridor gehen. Nie mehr würde sie nachts dort in der Anrichte Kaffee kochen, nie mehr in ehrerbietigem Abstand hinter Dr. Claussen gehen, wenn Visite war. Das Tor des Krankenhauses würde sich hinter ihr schließen. Nur, weil sie an der Tür gehorcht hatte. Aber es war auch ein großes Vergehen, an der Tür eines Arztzimmers zu horchen. Es war gar nicht verwunderlich, daß die Oberschwester so aufgebracht war. Schließlich mußte es grotesk ausgesehen haben - eine der Lernschwestern, die das Ohr gegen die Türritze preßt!
Eine Erklärung oder Entschuldigung gab es dafür nicht. Sollte sie zu allem Überfluß auch noch eingestehen, was sie dazu getrieben hatte, nur um weiter im Krankenhaus arbeiten zu dürfen? Sollte sie der Oberschwester, dem Oberarzt und vielleicht noch anderen auseinandersetzen, daß sie gehorcht hatte, weil sie wissen wollte, ob ihr Verlobter eine andere geheiratet hatte?
Nein! Dann lieber fristlos entlassen werden. Sie mußte ihre Zuflucht zu Frau Lindberg nehmen. Und dann mußte sie versuchen, irgendwo eine Bürostellung zu bekommen - Auf den Schwesternberuf konnte sie ja jetzt ohnehin verzichten. Die Krankenpflege hatte sie ja Halfdans wegen erlernt, um ihm eine Hilfe sein zu können. Aber jetzt hatte er eine ideale Frau, die prächtige Schwester Vera, die so unerhört tüchtig und hübsch war -jetzt war sie ja wohl seine Frau, jetzt wohnten die beiden im nördlichen Giebelzimmer, jetzt war sie es, die sich abends vorm Ofen in seinen Arm kuschelte - oh, es war nicht auszuhalten, daran zu denken - es schnitt und brannte in der Brust.
Sie stand gegen die Wand gelehnt und starrte durch die Glastür in den Korridor der medizinischen Abteilung. Da ging Schwester Eldrid gerade in den Saal. Dann war die Visite vorbei. Wie gern würde sie Frau Dr. Claussen nur noch ein einziges Mal wiedersehen. Die frische, gütige, unsentimentale Dr. Claussen. Merkwürdiger Gedanke, daß sie sie jemals gefürchtet hatte. Und dabei war sie trotz ihres ruhigen Wesens so gut.
Eirin trat entschlossen einen Schritt zur Seite. Von hier aus konnte sie die Sprechzimmertür sehen. Sie starrte unverwandt darauf.
Da - jetzt ging die Tür auf. Margit Claussen in ihrem weißen Mantel trat heraus. Sie blieb einen Augenblick bei Kjeller stehen und wechselte ein paar Worte mit ihm.
Aber wo - wo wollte sie denn hin? Hier entlang? Das war doch sonst nicht ihr Weg! Was wollte sie hier?
„Ich gehe durch den Garten“, hörte Eirin sie sagen. „Ich habe Lufthunger.“
Eirin drückte sich gegen die Wand. Aber es war zu spät. Frau Dr. Claussen hatte sie entdeckt.
„Hallo, Schwester Lise! Sind Sie zu Besuch in Ihrer alten Gegend?“
Eirin öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie brachte kein Wort heraus.
Frau Dr. Claussen wurde aufmerksam. Das Gesichtchen war bleich und wirkte eingefallen und verstört. Die
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