Schwester Lise
konnte es dennoch nicht lassen, an ihn zu denken. Je verzweifelter sie an Halfdan dachte, desto gereizter wurde sie, weil Fredrik ihr gleichzeitig im Kopf herumspukte.
Ihr ganzes Gemüt war in Aufruhr. Sie litt mehr in diesen Monaten als in ihrem ganzen Leben zusammengenommen.
Fredrik war schuld! Ihm hatte sie alles zu verdanken! Er hatte ihr Leben vergiftet, ihr junges, stilles Glück zerstört, mit seinem sehnsüchtigen Geschwafel, mit seiner warmen, verhaltenen Stimme, mit seinen schmachtenden Augen - und mit einer Ansichtskarte mit Palmen und blauem Himmel! Hatte sie nicht allen Grund, ihn zu hassen?
Aber der Tag kam, da ihr Widerstand versiegte. Eines Samstags läutete sie ihn mitten in der Sprechstunde an.
„Ich bin morgen frei, Fredrik. Hattest du nicht die Absicht, mich zum Essen einzuladen?“
„Du weißt, daß es nichts gibt, was ich lieber tun würde!“
Sie verabredeten, eine lange Autofahrt zu machen und irgendwo am Oslofjord zu Mittag zu essen.
„Du siehst müde aus, Liselchen“, sagte Fredrik, als er sie neben sich im Wagen untergebracht hatte. „Zuviel zu tun, natürlich?“
„Ach ja, Arbeit genug! Gestern hatten wir erst eine Blinddarmentzündung, die in die Bauchhöhle durchgebrochen war. Kaum waren wir damit fertig, kam ein Unfall. Also hieß es, den Operationssaal schleunigst wieder herzurichten. Am Nachmittag wurde noch ein akuter Blinddarm eingeliefert. Und morgen haben wir einen Nabelbruch und einen Leistenbruch. Mit diesem darf sich Stoffer allein amüsieren; er ist sehr stolz darauf und fühlt sich schon als Professor.“
„Wann gedenkst du, diese Plackerei an den Nagel zu hängen, Lise?“
„Weiß ich nicht. Jedenfalls mache ich jetzt erst mal meine Ausbildung zu Ende. Und dann werde ich weitersehen.“
„Du, Lise!“
„Ja?“
„Da ist was, was ich sehr gern wissen möchte.“
„Dann schieß los.“
„Warum bist du eigentlich nicht in mich verliebt?“
Eirin sah ihn überrascht an. Sie lächelte spöttisch.
„Dieser Ausspruch ist ziemlich charakteristisch für dich. Siehe da! Du bist also erstaunt, daß es wirklich eine Frau gibt, die nicht in dich verliebt ist?“
„Tja - hm - stimmt! Es ist ziemlich ungewohnt.“
„Aha! Siehst du, mein Lieber, und das ist vielleicht der Grund, weshalb ich nicht in dich verliebt bin.“
„Was gibt es noch für Gründe?“
„Das möchtest du wohl gern wissen, mein Lieber! - Weißt du was? Ich habe einen mordsmäßigen Hunger, Fredrik. Sagtest du nicht, du hättest Hühnerpastete im Frühstückskorb mit?“
„Auf eins mußt du mir jedenfalls Antwort geben, ehe wir auseinandergehen“, sagte Fredrik. Er hatte sie bis zum Krankenhaus gefahren. Jetzt stand der Wagen dicht am Zaun, gut unter Bäumen und Sträuchern versteckt. „Hast du eigentlich je ernsthaft an die Möglichkeit einer Heirat zwischen uns beiden gedacht?“
„Hast du das getan?“
„Es ist eine schlechte Angewohnheit von dir, eine Frage mit einer anderen zu beantworten. Ja, das hab’ ich getan, wenn du es schon wissen willst. Aber ich möchte nicht Gefahr laufen, mir einen Korb zu holen. Deshalb mache ich dir keinen Antrag. Ich muß erst Klarheit darüber haben, wie du zu mir stehst - und das ist verdammt schwierig. Fast sieht es so aus, als wolltest du zu allen Problemen des Lebens, die Liebe eingerechnet, erst Stellung nehmen, wenn du deine Ausbildung hinter dir hast. Oder irre ich mich da?“
Eirin blieb lange stumm. Endlich sagte sie nachdenklich:
„Weißt du, Fredrik, du fragst mehr, als ich beantworten kann. Denn ich weiß es selber nicht.“
„So.“ - Er dachte angestrengt nach. „Du meinst also, ich müsse abwarten und mich inzwischen gedulden?“
„Ja, so lange du es kannst. Ich glaube allerdings nicht, daß Geduld deine starke Seite ist.“
Eirin war aus dem Wagen geklettert und reichte ihm jetzt die Hand zum Abschied.
„Der Himmel weiß, wieviel Geduld ich aufbringen kann und vieles andere dazu, wenn es um dich geht. Denn dich, Lise - dich habe ich einfach lieb, hörst du? So, nun weißt du es ganz genau!“
Er fuhr mit einem Ruck an, und einen Augenblick später war der Wagen um die Wegbiegung verschwunden.
Eirin sah ihm mit grüblerischem Lächeln nach.
Sie arbeitete jetzt im Operationssaal. Und es war bessergegangen, als sie es je zu hoffen gewagt hatte. Ihre Nerven gehorchten ihr. Blut und weiße Knochensplitter, der Geruch von Äther oder der Gestank von Eiter konnten ihr nichts mehr anhaben. Sie zeigte viel Interesse
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