Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
«Apparatemedizin» skeptisch beäugt wird, kann ich gut verstehen. Ich beäuge die Apparate selbst auch skeptisch, weil ich mit ihnen arbeiten muss. Und die Grundregel lautet: Je größer das Gerät und je dringender es eingesetzt werden muss, desto mehr Theater wirst du damit haben. Das sagt einem in der Einarbeitungszeit oder in der Fachausbildung aber niemand; das ist teuer bezahlte Erfahrung.
Grübelnd stehen die Eule und ich vor dem Bett von Herrn Koller, einem etwas dicklichen Mittsechziger. Sein Darm war durch eine chronische Entzündung perforiert, das eigentlich für den Alltagsgebrauch ausreichend stabile Darmgewebe zerstört, und der Inhalt dieses meterlangen Geschläuchs hatte sich in seinen Bauchraum ergossen. Für die Operateure kein schöner Anblick und für Herrn Koller eine lebensbedrohliche Situation.
Nach der Visite kommt die Eule mit einem DIN -A4-Zettel in der Hand ins Zimmer geschwebt, auf dem die Laborwerte des Dicken gedruckt stehen.
«Ich befürchte, wir müssen Herrn Koller filtrieren», bestätigt sie das, was ich schon geahnt habe. In der Dienstübergabe hatte der Star es bereits angekündigt, weil der Patient in den letzten Stunden nur noch knapp zwanzig Milliliter ausgeschieden hat. Frühmorgens sei es noch etwas mehr gewesen. Der Star sieht ganz schön angeschlagen aus; zum einen ist sie schon seit halb fünf auf den Beinen und der Frühdienst war «etwas tumultig», deshalb sei auch noch kein Filtrationskatheter gelegt worden, weil die Ärzte schlichtweg keine Zeit dafür gehabt hätten. Erschöpft lehnt sie am Waschbeckenrand neben dem Kurvenwagen. Wir gehen die Fakten noch einmal durch, einen umfangreichen Verbandswechsel nehme ich als zusätzliches Schmankerl noch mit ins Nachmittagsprogramm. Ansonsten sollte es gehen, denn der zweite Bettplatz im Raum ist leer, und ich hoffe, das bleibt so. Der Star geht noch einen Kaffee trinken, damit sie auf der Heimfahrt nicht einschläft, und ich bleibe bei Herrn Koller und seinem maroden Organsystem.
Durch die hemmungslos tobende Infektion haben die Nieren ihre Funktion vorübergehend eingestellt, was sich für eine verantwortungsvolle Niere eigentlich nicht gehört. Mental bereite ich mich darauf vor, was jetzt kommt: das Hämofiltrationsgerät zusammenbauen, kurz: «die Niere», weil sie im Groben das tut, was eigentlich der Job der Niere wäre, nämlich das Filtern von harnpflichtigen Substanzen und Salzen und das Ausscheiden derselben. Der Beutel, der am Dauerkatheter in der Blase von Herrn Koller angeschlossen ist, ist so gut wie leer.
Es ist keine Zeit zum Schimpfen und zur Organ-Anklage, jetzt muss etwas getan werden, und es ist Zeit für die Ausweitung der «Apparatemedizin»: nach Daten, Fakten und Zahlen endlich die Idee! Zuerst einmal benötigt Herr Koller einen Filtrationskatheter, ein ziemlich dickes Ding, fast so dick wie ein kleiner Finger, der günstigstenfalls in die Halsvene gelegt wird. An das ypsilonförmige Gebilde wird dann später «die Niere» angeschlossen. Aus der einen Zugangsseite wird das Blut aus dem Patienten herausgezogen, durch eine Filterkartusche mit vielen kleinen Poren gepresst, durch die wiederum eine Spüllösung läuft und die ganzen harnpflichtigen Substanzen herauslöst, die wiederum in einen Beutel laufen, literweise, stundenlang. Das gereinigte Blut wird über den anderen Katheterschenkel wieder in den Patienten zurückgegeben. So weit, so simpel.
Herr Koller ahnt von all dem nichts. Er hat eine Narkose, ist beatmet und wird von all den Aktivitäten hoffentlich nicht viel mitbekommen. Ich richte der Eule ein steriles Tischchen, auf dem sich sämtliche Zutaten für eine Katheteranlage befinden, binde ihr den sterilen Kittel zu, und nachdem sie ihre Hände in die quietschengen sterilen Gummihandschuhe gesteckt hat, postiert sie sich am Kopfende des Bettes von Herrn Koller, um besser an die Halsvene herankommen zu können. Wir beginnen routiniert mit der Arbeit. Ich reiße all die sterilen Packungen auf, das Desinfektions-Set, die Einzelteile des Filtrationskatheters und haufenweise sterile Tupfer. Als alles desinfiziert und mit sterilen Tüchern abgedeckt ist, fängt die Eule an zu punktieren. Ich gucke zu und denke gerade, dass das nicht so einfach aussieht, da flucht die Eule schon leise in den Mundschutz. «Das kann echt nicht wahr sein!» Sie bohrt in der Haut des Patienten herum. «Der hat vielleicht dicke Haut! Wie Leder! Ich komm da gar nicht durch!» Sie zieht die riesige Nadel
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