Schwesterlein, komm stirb mit mir
verlassen.» Schenk trat ein und schloss die Tür hinter sich. «Was kann ich tun?»
«Bei Georg Stadler zu Hause vorbeifahren und nachsehen, ob etwas nicht stimmt. Er ist verschwunden, und wir machen uns Sorgen.»
«Echt? Wie lange habt ihr nicht von ihm gehört?»
«Heute Morgen kam eine SMS , danach nichts mehr.» Dass Stadler sich angeblich bei Liz gemeldet hatte, verschwieg Birgit lieber.
Schenk benötigte keine weiteren Erklärungen. «Ich brauche die Adresse und einen Schlüssel.»
Birgit riss ein Blatt vom Notizblock und notierte Stadlers Anschrift. «Auf der gleichen Etage wohnt eine ältere Dame, die seinen Wohnungsschlüssel hat. Wenn du ihr den Dienstausweis zeigst, lässt sie dich bestimmt rein. Ach ja, guck auch nach seinem Wagen.»
«Der Mustang. Mach ich.»
«Wenn es auch nur die kleinsten Anzeichen dafür gibt, dass Stadler etwas zugestoßen sein könnte, alarmierst du sofort die Kollegen. Und zwar das große Aufgebot. Verstanden?»
«Bin schon weg.» Schenk eilte aus dem Büro.
«Hoffentlich hast du den Richtigen für diese Aufgabe ausgesucht», sagte Miguel.
«Hoffentlich ist es falscher Alarm», antwortete Birgit.
Dienstag, 5. November, 10:27 Uhr
Liz saß auf dem Bett und starrte auf den Zettel. Ihre Gedanken überschlugen sich, doch allmählich kristallisierte sich aus dem Durcheinander die Lösung heraus. Noch einmal las sie die Worte, die sie längst auswendig konnte:
Geliebtes Schwesterlein, dein Kommissar leistet mir Gesellschaft, bis du eintriffst. Ich habe mir etwas ganz Besonderes für ihn ausgedacht. Mit ihm werde ich noch mehr Spaß haben als mit deiner Freundin Deborah. Beeil dich und komm allein, dann kannst du ihn vielleicht retten. Wir erwarten dich zu Hause.
Hendrik
Liz schloss die Augen.
Wir erwarten dich zu Hause.
Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Hendrik wollte die Geschichte dort beenden, wo sie begonnen hatte, im Zuhause ihrer Kindheit.
Liz legte das Blatt auf die Bettdecke. Was von nun an passierte, lag in ihrer Verantwortung. Sie musste Hendrik davon abhalten, noch mehr Menschen umzubringen – doch nicht um den Preis, dass er im Kugelhagel des SEK krepierte. Hendrik war ein Mörder. Er hatte zahllose Menschen getötet. Er hatte Deborah bestialisch abgeschlachtet – und ihre Mutter. Aber er war auch ihr Bruder. Es war verrückt, es war leichtsinnig, es war vollkommen idiotisch – dennoch musste sie versuchen, eine unblutige Lösung zu finden. Sie war die Einzige, die Hendrik zurückholen konnte. Die ihn davon überzeugen konnte, dass er sich auf einem Irrweg befand. Sie konnte ihn retten. Sie
musste
ihn retten.
Aus dem vorderen Teil der Wohnung drang die Stimme der Polizistin zu ihr: «Wollen Sie nicht frühstücken, Frau Montario?»
Rasch faltete Liz das Blatt und steckte es in die Hosentasche. Sie lief zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. «Ich telefoniere gerade mit meinem Vater», log sie. «Er liegt im Krankenhaus. Ich komme gleich.»
Liz schloss die Tür, trat ans Fenster und blickte hinunter. Erster Stock. Direkt unter ihr begann die Rasenfläche. Ein Kinderspiel.
Liz sah sich im Zimmer um. Sie musste Hendrik allein treffen, nur so hatte sie eine Chance, in Ruhe mit ihm zu reden. Doch sie wollte nicht ganz auf Rückendeckung verzichten. Wenn sie versagte, musste die Polizei die Sache auf ihre Art beenden.
Nach kurzem Überlegen fasste Liz einen Plan. Sie zog ihre Turnschuhe an und lief zur Zimmertür. So leise wie möglich drückte sie die Klinke herunter und schlich in den Korridor. Die Polizistin schien zu telefonieren. Gut so! Auf der Kommode lag der Wagenschlüssel, den Liz bereits auf dem Weg ins Bad bemerkt hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie das Auto ihrer Bewacherin aussah, doch das würde der Funkschlüssel ihr schon verraten. Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und schloss die Tür ab. Nachdem sie ihr rotes Haar unter einer Mütze verborgen und ihre Jacke angezogen hatte, öffnete sie das Fenster. Eisige Kälte schlug ihr entgegen, die Luft roch nach Schnee. Liz kletterte auf die Fensterbank und sprang.
Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Beine, als sie aufprallte, doch er ebbte sofort wieder ab. An der Hauswand entlang rannte Liz zur Straße. Glücklicherweise hatte Stadler nicht durchsetzen können, dass ein Streifenwagen vor dem Gebäude Wache hielt.
Liz blieb an der Hausecke stehen und betätigte den Funkschlüssel. Genau vor ihr piepste es, und die Warnblinkanlage eines Ford Focus blinkte auf. Liz hielt den
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