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Schwesterlein, komm stirb mit mir

Schwesterlein, komm stirb mit mir

Titel: Schwesterlein, komm stirb mit mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Sander
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Doch sie hatte sich nicht getäuscht.
    Du allein sollst mich finden. Niemand sonst. Also komm nicht wieder auf die Idee, dir Hilfe zu holen.

Dienstag, 22. Oktober, 17:38 Uhr
    «Und dann bin ich weggelaufen. Ich hab das nicht ausgehalten, ich konnte es einfach nicht. Ich wollte nur weg.» Die letzten Worte flüsterte sie, zog ein zerknülltes Taschentuch aus der Hosentasche und presste es sich vor die Augen.
    Liz beobachtete beklommen, wie die junge Frau weinte, wie ihre Schultern bebten, wie das Schluchzen immer heftiger wurde.
    «Das ist in Ordnung so, Feuerhexe, lass es raus», sagte Monika, die Therapeutin, sanft.
    Liz hörte neben sich jemanden stöhnen. Sie war sich nicht sicher, ob aus Mitgefühl oder unterdrückter Wut. Feuerhexe heulte sich jede Woche die Seele aus dem Leib, und es grenzte an ein Wunder, dass ihr noch nie jemand an die Gurgel gesprungen war. Doch die eiserne Regel der Gruppe lautete, jeden so zu akzeptieren, wie er war.
    Liz spürte, dass jemand sie beobachtete. Sie wandte sich von Feuerhexe ab und schaute auf. Es war der Mann, der sich Boy nannte. Als ihre Blicke sich trafen, sah er rasch weg.
    Monika redete noch immer beruhigend auf Feuerhexe ein, die jetzt langsam zur Ruhe kam. «Ich denke, wir können weitermachen», sagte sie schließlich. «Schattenkind? Möchtest du uns erzählen, wie es dir in der letzten Woche ergangen ist?»
    Die Angesprochene nickte stumm. Sie war bleich und mager wie immer und kaute nervös an ihren Fingernägeln. «War eigentlich ganz okay», begann sie.
    Liz’ Gedanken schweiften ab, als Schattenkind weitersprach. Sie kannte ihre Geschichte in- und auswendig, so wie die Geschichten aller anderen hier. Sie kannte zwar nicht die wahren Namen, doch sie wusste mehr über die Menschen in dieser Runde als über die, mit denen sie täglich zu tun hatte. Sie alle hatten etwas Schreckliches erlebt, das sie aus dem Leben katapultiert hatte. Manche kamen ganz gut damit zurecht. Andere waren nicht mehr in der Lage, den Alltag zu bewältigen. Feuerhexe, die in Wirklichkeit Vera hieß, wie sie Liz einmal im Vertrauen zugeraunt hatte, war in ihrer eigenen Wohnung überfallen und vergewaltigt worden. Der Täter hatte zwei Tage bei ihr gewohnt, sie ans Bett gefesselt und wieder und wieder gequält, bis er schließlich verschwunden war – vermutlich in dem Glauben, sie sei tot. Seither fühlte sie sich verfolgt. Sie verließ fast nie das Haus, kontrollierte alle zehn Minuten, ob auch alle Fenster verschlossen und die Tür verriegelt waren. An guten Tagen schaffte sie es, alleine einkaufen zu gehen, an schlechten nicht einmal, die Rollläden hochzuziehen. Arbeiten konnte sie nicht. Sie lebte von einer winzigen Frührente und von dem, was ihre Eltern für sie abzweigten. Für Feuerhexe war es schon eine enorme Leistung, jede Woche zur Traumagruppe zu kommen. Am meisten quälte sie die Angst, dass der Mann, der ihr das angetan hatte, eines Tages zurückkehren könnte. Man hatte ihn nie gefasst.
    Feuerhexe war schon seit über einem Jahr dabei, genau wie Liz. Boy hingegen war das neueste Mitglied. Er kam erst seit ein paar Wochen zu den Treffen. Liz schätzte ihn auf Ende dreißig. Er hatte ein anziehendes Äußeres, ein kantiges Gesicht mit einer hohen Stirn, dunkles, fast schwarzes, leicht gewelltes Haar, ausdrucksvolle braune Augen. Eigentlich ein Siegertyp, aber auch ihm hatte das Schicksal die Arschkarte gezeigt. Als kleiner Junge hatte er mit ansehen müssen, wie seine ganze Familie starb, bei einem Autounfall, den nur er überlebte. Bis auf gelegentliche Angstanfälle mit Herzrasen und Schweißausbrüchen schien er ein normales Leben zu führen. So wie Liz.
    «Amy?»
    Liz fuhr zusammen. Sie blickte hoch, alle starrten sie an. Offenbar hatte Monika sie schon einmal angesprochen. «Ja?»
    «Ist alles in Ordnung, Amy?»
    Liz nickte. In der Gruppe nannte sie sich Amy, weil sie den Film
Amy und die Wildgänse
schon mehr als ein Dutzend Mal gesehen hatte. Für sie besaß die Geschichte eine unglaublich intensive tröstliche Kraft. Er beschwor die Macht von bedingungsloser Freundschaft, von Nähe und Vertrauen, lauter Dingen, die es in ihrem Leben nicht gab.
    «Möchtest du uns heute etwas erzählen, Amy?»
    «Nein», sagte Liz rasch. «Heute lieber nicht.» Sie lächelte verlegen. «Es geht mir nicht so gut.»
    Eine kleine Falte erschien auf Monikas Stirn, verschwand aber sofort wieder. «Wie du möchtest, Amy.»
    Jemand anderes begann zu sprechen, und als Liz aufsah, fing sie

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