Schwesterlein, komm tanz mit mir
anzurufen, nachdem ich es abgeliefert hätte.
Aber vorige Woche wurde mir klar, daß die Fertigstellung noch einen Monat dauern wird; es kommt nichts dabei heraus, wenn man zu schnell arbeiten will.»
«Und darum haben Sie sie angerufen.»
«Ja, Anfang der Woche. Und am Donnerstag noch einmal. Nein, es war am Freitag, kurz bevor ich zum Wochenende wegfuhr.»
Vince las den Brief, den Erin an Nash geschrieben hatte.
Seine Anzeige war angeheftet: Arzt, weiß, 37, 1,85, attraktiv, erfolgreich, Sinn für Humor. Liebt Skifahren, Reiten, Museen und Konzerte. Sucht kreative, attraktive, weiße Sie. Chiffre 3295.
Erins maschinengeschriebener Brief lautete:
Hallo, Chiffre 3295. Habe vielleicht alle gewünschten Eigenschaften. Nein, nicht ganz. Sinn für Humor habe ich. Ich bin 28, knapp 1,70 groß, wiege 54 Kilo, und meine beste Freundin sagt, ich sei sehr attraktiv! Ich bin Schmuckdesignerin und fange allmählich an, Erfolg zu haben. Ich bin eine gute Skifahrerin; reiten kann ich, wenn das Pferd langsam und fett ist. Museen besuche ich sehr gern. Tatsächlich finde ich in Museen eine Menge guter Ideen für meine Schmuckentwürfe. Und Musik ist ein Muß. Sehen wir uns? Erin Kelley, 212-555-1432.
«Sie verstehen, warum ich sie angerufen habe», sagte Nash.
«Und Sie haben sie nie wiedergesehen?»
«Ich hatte keine Gelegenheit dazu.» Michael Nash stand auf. «Es tut mir leid. Wir müssen Schluß machen. Mein erster Patient kommt früher als gewöhnlich. Aber ich bin hier, wenn Sie mich brauchen. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, lassen Sie es mich wissen.»
«Wieso glauben Sie, daß Sie helfen könnten, Doktor?»
Vince stand auf, während er ihm diese Frage stellte.
Nash zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht. Ich nehme an, es ist der instinktive Wunsch, daß ein Mörder vor Gericht kommt. Erin Kelley liebte offensichtlich das Leben und hatte eine Menge zu bieten. Sie war erst achtundzwanzig.» Er streckte die Hand aus. «Sie halten nicht viel von uns Seelenklempnern, nicht wahr, Mr. D’Ambrosio? Sie finden, daß neurotische, selbstsüchtige Leute gutes Geld dafür bezahlen, zu mir zu kommen und sich zu beklagen. Lassen Sie mich erklären, wie ich meinen Job sehe. Mein Berufsleben ist dem Versuch gewidmet, Menschen zu helfen, die aus irgendeinem Grund in Gefahr sind, unterzugehen. Manche Fälle sind einfach.
Ich bin wie ein Rettungsschwimmer, der hinausschwimmt, weil er sieht, daß jemand am Ertrinken ist, und ihn zurückholt. Andere Fälle sind wesentlich schwieriger. Die sind so, als versuchte ich, während eines Hurrikans das Opfer eines Schiffsuntergangs zu bergen. Es dauert lange, bis ich herankomme, und die Dünung treibt mich zurück.
Es ist ziemlich befriedigend, wenn die Bergung gelingt.»
Vince steckte Erins Brief in seine Aktenmappe. «Vielleicht können Sie uns helfen, Doktor. Wir versuchen, die Leute zu finden, die Erin durch Kontaktanzeigen kennenlernte. Wären Sie bereit, mit einigen von ihnen zu reden und mir Ihre berufliche Meinung darüber zu sagen, was sie antreibt?»
«Selbstverständlich.»
«Ach, übrigens, sind Sie Mitglied der AAPL?» Psychiater, die der
American Association of Psychiatry and the Law
angehörten, waren, wie Vince wußte, besonders geübt im Umgang mit Psychopathen.
«Nein, bin ich nicht. Aber meine Recherchen, Mr. D’Ambrosio, haben mir gezeigt, daß die meisten Leute, die solche Anzeigen aufgeben oder beantworten, das aus Einsamkeit oder Langweile tun. Andere haben vielleicht finsterere Motive.»
Vince wandte sich um und ging zur Tür. Während er den Türknopf drehte, blickte er zurück. «Auf Erin Kelleys Fall trifft das wahrscheinlich zu.»
Am Dienstag abend fuhr Charley in sein Versteck und ging geradewegs in den Keller. Er nahm den Stapel Schuhkartons und stellte ihn auf die Tiefkühltruhe. An jeden war der Name des Mädchens geheftet, zu dem er gehörte. Natürlich brauchte er diese Gedächtnisstütze nicht.
Er erinnerte sich an jede einzelne in allen Details. Überdies hatte er außer von Nan von allen Videobänder. Und er hatte die
Authentische Verbrechen
-Sendung über Nans Tod aufgezeichnet. Sie hatten es geschafft, ein Mädchen zu finden, das ihr wirklich ähnlich sah.
Er öffnete Nans Schachtel. Der zerkratzte Nike-Turnschuh und der schwarze, paillettenbesetzte Abendschuh. Er war ziemlich protzig. Inzwischen hatte sich sein Geschmack verbessert.
Sollte er Nans und Erins Schuhe gleichzeitig zurückschicken? Sorgfältig überdachte er die
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