Schwesterlein, komm tanz mit mir
Wirklich komplett. Und dann noch jemand. Gus Boxer, der Hausmeister von Christopher Street 101. Das ist das Apartmenthaus, in dem Erin Kelley wohnte. Sein Gesicht verfolgt mich seit Samstag. Wir haben eine Akte über ihn, da bin ich sicher.»
Vince schnippte mit den Fingern. «Warten Sie eine Sekunde. Das ist gar nicht sein Name. Jetzt erinnere ich mich. Er heißt
Hoffman.
Vor zehn Jahren war er Hausmeister in dem Gebäude, in dem eine zwanzigjährige Frau ermordet wurde.»
Dr. Michael Nash war nicht überrascht, als er am Sonntag abend nach Manhattan zurückkehrte und auf seinem Anrufbeantworter die Mitteilung vorfand, er solle sich mit dem FBI-Agenten Vincent D’Ambrosio in Verbindung setzen. Offenbar überprüften sie die Leute, die Nachrichten für Erin Kelley hinterlassen hatten.
Er erwiderte den Anruf am Montag morgen und vereinbarte mit Vince, daß dieser vor seinem ersten Termin am Dienstag bei ihm vorbeikommen sollte.
Pünktlich um acht Uhr fünfzehn am Dienstag morgen erschien Vince in Nashs Praxis. Die Empfangssekretärin erwartete ihn und führte ihn zu Nash, der bereits an seinem Schreibtisch saß.
Es war ein angenehmer Raum, fand Vince. Mehrere bequeme Sessel, Wände in Sonnengelb, Vorhänge, die das Tageslicht durchließen, aber vor den Blicken der vorbeigehenden Fußgänger schützten. Die traditionelle Couch, eine lederne Version der Chaiselongue, die Alice vor Jahren gekauft hatte, stand rechtwinklig zum Schreibtisch.
Ein beruhigender Raum. Der Ausdruck in den Augen des Mannes am Schreibtisch war freundlich und nachdenklich.
Vince dachte an Samstagnachmittage. Beichte. «Segnen Sie mich, Pater, denn ich habe gesündigt.» Die Verstöße reichten vom Ungehorsam gegenüber den Eltern bis zu gröberen Sünden in den Teenagerjahren.
Es störte ihn jedesmal, wenn jemand äußerte, die Psychoanalyse habe die Beichte ersetzt. «Bei der Beichte klagt man sich selbst an», pflegte er dann zu sagen. «In der Analyse klagt man alle anderen an.» Sein eigener Hochschulabschluß in Psychologie hatte ihn in dieser Ansicht bestärkt.
Er hatte das Gefühl, daß Nash seine instinktive Feindseligkeit gegen die meisten Seelenklempner spürte. Spürte und verstand.
Sie beäugten einander. Gut gekleidet, aber unauffällig, dachte Vince. Er war sich bewußt, daß er selbst nicht sehr dafür begabt war, zu jedem Anzug die richtige Krawatte zu wählen. Alice hatte das für ihn getan. Nicht, daß ihm viel daran gelegen war. Er trug lieber eine braune Krawatte zu einem blauen Anzug, als sich dauernd ihr Lamentieren anzuhören. «Warum gehst du nicht vom FBI weg und suchst dir einen Job, in dem du wirklich Geld verdienen kannst?» Alice war jetzt Mrs. Malcolm Drucker. Malcolm trug Krawatten von Hermès und Maßanzüge.
Nash hatte eine graue Tweedjacke und einen rotgrauen Schlips an. Gutaussehender Mann, räumte Vince ein. Starkes Kinn, tiefliegende Augen. Die Haut leicht gebräunt.
Vince mochte es, wenn ein Mann so aussah, als verkrieche er sich bei schlechtem Wetter nicht im Haus.
Er kam gleich zur Sache. «Dr. Nash, Sie haben zwei Nachrichten für Erin Kelley hinterlassen. Sie hören sich an, als hätten Sie sie gekannt und sich mit ihr getroffen. Ist das der Fall?»
«Ja. Ich bin dabei, ein Buch zu schreiben, in dem ich das soziale Phänomen der Bekanntschaftsanzeigen analysiere.
Kearns und Brown ist mein Verlag, Justin Crowell mein Lektor.»
Für den Fall, daß ich denke, er habe wirklich versucht, ein Rendezvous zu bekommen, dachte Vince, hütete sich aber, darauf einzugehen. «Wie kam es dazu, daß Sie mit Erin Kelley ausgingen? Hat sie auf Ihre Anzeige geantwortet oder umgekehrt?»
«Sie hat meine beantwortet.» Nash griff in seine Schublade.
«Ich hatte Ihre Frage erwartet. Hier ist die Anzeige, auf die sie geantwortet hat, und hier ist ihr Brief. Ich habe sie am 13. Januar im ‹Pierre› zu einem Drink getroffen. Sie war eine reizende junge Frau. Ich äußerte meine Überraschung, daß jemand, der so attraktiv aussah, es nötig hätte, Bekanntschaften zu suchen. Sie erzählte mir ganz offen, daß sie die Anzeigen einer Freundin zuliebe beantwortete, die eine Dokumentation plant. Normalerweise verrate ich nicht, daß solche Begegnungen für mich Recherchen sind, aber ihr gegenüber war ich ganz aufrichtig.»
«Und das war das einzige Mal, daß Sie sie gesehen haben?»
«Ja. Ich habe schrecklich viel zu tun. Ich bin fast fertig mit meinem Buch und wollte es abschließen. Ich hatte vor, Erin wieder
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