Schwesterlein muss sterben
egal, die kleine Schlampe sollte endlich begreifen, dass er nicht so einfältig war, wie sie offensichtlich glaubte. »Ich weiß genau, wo sie ist und was sie macht. Ich warte nur auf den richtigen Zeitpunkt, um …« Er ließ das Ende des Satzes offen und wiederholte stattdessen: »Sie kommt nicht davon. Ich weiß, was ich tue.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Antwort kam ganz ruhig, aber es war genau dieser Tonfall, der ihn daran erinnerte, wie oft schon jemand versucht hatte, ihn einfach zu verarschen! Er war jetzt nur noch darauf gespannt, wie weit sie gehen würde …
»Ich fürchte, du machst dir selber etwas vor. Du hast keine Ahnung, wie es weitergehen soll, sonst hättest du längst irgendwasan der Situation geändert. Aber das geht immer noch, glaub mir! Ich weiß nicht, wer du bist, ich habe ja noch nicht mal dein Gesicht gesehen, wir können einfach so tun, als ob das Ganze nie passiert wäre. Lass mich laufen! Oder noch besser: Bring mich in die Stadt zurück, mit verbundenen Augen, damit du dir sicher sein kannst, dass ich auch die Hütte nicht wiederfinde.«
»Und dann?«, hakte er nach, obwohl er die Antwort schon ahnte. Aber er konnte noch nicht ganz glauben, dass sie tatsächlich so hinterfotzig war, sogar ihre Freundin zu verraten.
Sie zuckte mit der Schulter, als wäre alles Weitere nur noch eine Frage, die er sich auch selbst beantworten könnte.
»Ich steige in den nächsten Zug nach Oslo und bin weg. Du wirst nie wieder irgendwas von mir sehen oder hören. Aber du hast jede Möglichkeit, deinen Fehler zu korrigieren. Wenn du Julia willst, dann hol sie dir!«
Seine Gedanken überschlugen sich. Wie er es auch drehte und wendete, sie hatte eben endgültig ihr Todesurteil unterschrieben. Es gab keine andere Lösung mehr. Es hatte auch nie wirklich eine gegeben, er wusste nicht, warum er überhaupt so lange gewartet hatte. Aber er würde sie nicht ertrinken lassen, er musste einen deutlichen Grenzstrich zwischen ihr und den anderen ziehen. Sie war weitergegangen, als irgendeine der Schlampen es je zuvor gewagt hatte …
Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Im ersten Moment glaubte er an ein Boot mit einem starken Außenborder, das sich in die Bucht verirrt hatte, erst als die Felswände das dröhnende Flappen der Rotorblätter zurückwarfen, wurde ihm klar, dass es ein Hubschrauber war, der die Küstenlinie abflog. Auch die kleine Schlampe hatte sich mit offenemMund vorgebeugt, als wäre ihre unerwartete Rettung plötzlich zum Greifen nah.
Mit zwei schnellen Schritten hinkte er zur Tür. Er zog sie so weit zu, dass nur ein schmaler Spalt blieb, durch den er aus der Dunkelheit heraus die Gegend im Blick behalten konnte. Der Hubschrauber musste jetzt direkt über ihnen sein, er konnte fühlen, wie die Bodenbretter der Hütte vibrierten.
Wie eine dunkle Wolke schob sich der Schatten über die Wiese, das Schilf am Ufer wurde von der Druckwelle flach gedrückt, kleine Wellen klatschten gegen den Anleger. Das Dröhnen war ohrenbetäubend, gleich darauf sah er den Hubschrauber, der jetzt kaum mehr als vier oder fünf Meter über ihm in der Luft zu stehen schien, deutlich konnte er die Aufschrift der Küstenwache ausmachen, SAR, Search and Rescue. Als der Pilot Richtung Meer abdrehte und der Hubschrauber an Tempo gewann, hatte er plötzlich Lust, schreiend auf die Wiese hinauszulaufen und irgendetwas Unflätiges hinter ihm herzubrüllen.
»Zu früh gefreut«, teilte er der kleinen Schlampe mit. »Sie haben nicht nach dir gesucht. Du interessierst keinen, das musst du langsam mal kapieren. Du könntest genauso gut tot sein …«
Er griff nach der Holzlatte, die neben der Tür lehnte. Am unteren Ende ragte eine rostige Schraube krummgebogen aus der zersplitterten Oberfläche, sonst war das Holz unversehrt und hart wie Metall. Er erinnerte sich, dass sein Adoptivvater behauptet hatte,Tropenholz würde nie vermodern, »noch nicht mal nach hundert Jahren«, hatte er dem kleinen Jungen neben sich erklärt, »Eisen rostet, Stein wird brüchig, selbst Eichenholz vermodert irgendwann, aber Bongossi wird mit der Zeit nur noch fester und dichter«.
Bongossi, den Namen hatte er sich über all die Jahre hinweg gemerkt. Wie es schien, hatte der Adoptivvater recht gehabt. Und es war durchaus möglich, dass die Latte dieselbe war, mit der der Adoptivvater damals die Möwe erschlagen hatte. Aber auch das wäre nur passend, dachte er, während er langsam auf die kleine Schlampe zuging.
An ihren Augen konnte er
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