Schwesterlein muss sterben
zweihundert Kronen, auf die sie sich geeinigt hatten.
»Wenn du mich verarscht hast, weiß ich, wo ich dich finde.«
»Das Gleiche gilt, wenn du Mikke erzählst, dass du den Tipp von mir hast.«
Angel schob den Schein in ihre Jeans. Sie zögerte einen Moment, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann drehte sie sich nur um und verschwand ohne ein weiteres Wort in der Gasse.
Julia holte tief Luft und stieg die glitschigen Stufen zurKellertür hinunter. Die Tür ließ sich problemlos öffnen, als würden die Scharniere regelmäßig geölt.
Der Gang war so dunkel, dass sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Ihre Turnschuhe machten ein schmatzendes Geräusch auf dem festgestampften Lehmboden. Als sie mit dem Fuß gegen die Stiege stieß, meinte sie, direkt vor sich etwas davonhuschen zu hören.
Sie biss die Zähne zusammen und tastete nach dem Handlauf. Die Holzstufen knarrten laut bei jedem Schritt, die Stiege war so steil, dass Julia das Gefühl hatte, fast senkrecht nach oben zu steigen. Im Erdgeschoss drang ein schwacher Lichtschein aus dem alten Drucksaal ins Treppenhaus. Zumindest konnte Julia jetzt vage die nächsten Stufen erkennen, unbewusst registrierte sie, dass die Treppe gefegt war, auf dem Absatz lehnte ein Besen an der Wand.
Je weiter sie nach oben kam, umso zögernder wurden ihre Schritte. Vor der Bodentür lauschte sie mit angehaltenem Atem auf irgendein Geräusch. Aber da war nichts als das unregelmäßige Knacken der Dachbalken über ihr.
Julia nahm allen Mut zusammen und stieß die Tür auf. Mikke schreckte von seiner Matratze hoch, er starrte sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Aus seinem Mund kam ein heiseres Keuchen, sein Gesicht war kreidebleich, die Haare klebten verschwitzt an seiner Stirn – und er trug einen Jogginganzug mit irgendeinem albernen Schriftzug quer über der Brust! Auf dem Boden neben der Matratze lag die Zeitung mit dem Bild von Marie …
Im selben Moment wusste Julia, dass ihre schlimmsten Befürchtungen zutreffen würden.
Ohne dass sie es wollte, schossen ihr die Tränen in dieAugen. Ihr Kinn begann zu zittern, ihre Knie fühlten sich an wie aus Gummi. Dann merkte sie, wie die Wut in ihr aufstieg.
»Wo ist sie?«, stieß sie hervor. »Wo ist Marie? Wo hast du sie?«
»Was?«
Mikkes Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Julia war bereits an ihm vorbei und riss die Decke zur Seite, die als Raumteiler zwischen den Balken gespannt war. Der Rest des Dachbodens lag in einem dämmrigen Zwielicht. Ein Campingkocher stand auf dem Boden, eine Schüssel mit eingetrockneter Grütze, mehrere Plastikkanister mit Wasser. Weiter hinten unter der Dachschräge konnte sie einen Stapel Stühle ausmachen, eine Truhe mit verrosteten Beschlägen, auch einen Koffer, der neu aussah und wahrscheinlich Mikke gehörte. Von Marie gab es keine Spur.
Julia hörte, wie sich Mikke stöhnend aufrichtete. Mit zwei Schritten war sie bei ihm und stieß ihn zurück auf sein Lager. Er nahm zitternd die Hände hoch, als wollte er sich ergeben. Julia griff ihm in die Haare und drehte seinen Kopf ins Licht der Dachluke. Seine Pupillen waren so stark erweitert, dass die Augen fast schwarz wirkten.
»Ich bin krank«, jammerte Mikke. »Ich hab Fieber, mir ist schlecht, lass mich los, bitte!«
»Gib dir keine Mühe«, keuchte Julia dicht an seinem Gesicht. »Ich weiß alles. Du hast von Anfang an nur gelogen! Also los, wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?«
»Hör auf, du tust mir weh!«
Julias Stimme überschlug sich. »Wo ist sie?«, schrie sie Mikke an. »Sag es mir, jetzt!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest, ehrlich nicht. Ich bin krank.«
Der Schweiß lief ihm jetzt in Strömen über das Gesicht, die Halsschlagader trat deutlich hervor und pochte unregelmäßig. Als Julia seine Wange streifte, hatte sie das Gefühl, dass seine Haut glühen würde. Irritiert zog sie die Hand zurück.
Er schob sich ein Stück von ihr weg, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte.
»Ich weiß nicht, was du von mir willst«, wiederholte er beschwörend. »Wovon redest du die ganze Zeit? Und wieso bist du hier? Woher weißt du überhaupt …«
Seine Stimme brach ab, als hätte er nicht mehr die Kraft, um weiterzureden. Er legte schwer atmend den Kopf zurück, ein dünner Speichelfaden lief aus seinem Mund und tropfte vom Kinn auf das Bett.
»Es tut mir leid«, flüsterte er so leise, dass Julia Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Ich hab Scheiße gebaut, ich weiß. Aber ich wollte
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