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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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suchte über die Kopfstütze des Vordermannes hinweg einen Ersatzplatz, tat so, als wollte ich mich strecken, recken, damit die Armlehnenokkupation nicht rücksichtslos aussah. Ich sah nach links. Grün, gesättigte Luft, das Licht, gelbstichiger Regen ging nieder. Blick nach rechts, direkt in die Augen der Sitznachbarin. Sie schaute und der Mund kaute. Sie trug einen Ehering links. Sie hieß Eva. Alle Ehefrauen heißen Eva.
    Sie lächelte und bot mir einen Kaugummi an. Konnte sie Gedanken lesen? Kannte sie meine Befürchtungen? Wie kam sie auf die Lösung, dass ich selber Kaugummi kauen müsste, um nicht ihr Kauen zu hören und sie gleich zu ermorden? Ich nahm den Kaugummi an, dankte herzlich, entwickelte das unverrottbare Gummistück. Ich lehnte mich zurück und kaute. Die Mundbewegungen und das Knatschen des Kaugummis zwischen den Zähnen ergaben die Geräuschkulisse, die mich bei anderen auf die Palme brachte. Ich spähte nach rechts. Jetzt las sie die Zeitung „Eva. Magazin für Ehefrauen“. Mein Ellbogen ruhte auf der Armlehne. Meine Okkupation. Ich ertrug diesen Plagegeist nicht mehr. Sie las Zeitung und ich las mit. Ich setzte mich aufrechter hin und blickte aus dem Augenwinkel hinüber. Lauter vertraute Gesichter auf dem Titelblatt. Die schönste Frau der Welt war rothaarig, kam aus England und sah mir ähnlich. Sie war schlank und besaß eine weiße Haut und eine scharfe, kurz geschnittene Nase in den edlen Zügen.
    Auf einen Schlag faltete die Sitznachbarin die Zeitung zusammen und da stand mein Horoskop. Ich kaute gemächlich. Der eroberte Eigenraum begann sich mit knatschigen Geräuschen zu füllen. Vielleicht reagierte ich so heftig kauend, weil ich auf meinem Sitzplatz nur eine halbe Person war im Vergleich zu meiner Sitznachbarin. Ich wollte ihr aus Demut Platz machen, denn ich sprach deutsch, nur deutsch, und diese Dame französisch und englisch. Doch dann machte sie mir Platz. Sie erhob sich und besuchte die Toilette. Ich zog meinen Ellbogen zurück und räumte die Armlehne. Ich schaute in die Landschaft – wir fuhren von der Traufe in den Regen. Hügelige Landschaft in einem durch. Das Wetter wurde heller, nicht besser. Für einen Augenblick fesselten mich Schweine, die auf einer Weide grasten. Ich war irritiert davon, erkannte dann aber, dass es fleischfarbene, kurzbeinige Kühe waren.
    Nun kam die Sitznachbarin zurück und nahm die Armlehne unter ihren Flügel. Die Zeitung lag auf dem Klapptischchen. Der Streifen mit dem Horoskop war immer noch aufgeschlagen. Das Zeichen des Zwillings forderte mich auf, Details wahrzunehmen und zu beachten, nicht in den Tag zu träumen, sondern sehr genau jede Kleinigkeit wahrzunehmen und ihre Bedeutung herauszufinden für mein Glück im Leben. Ich suchte Zeichen zu meiner Bestätigung überall auf der Welt, auch in „Eva“. Das Horoskop sagte weis, meine Zeit des Erfolgs wäre kurz und heftig. Mond, Mars und Merkur würden in einer Linie liegen und mich egoistisch machen, was ich zu verstecken versuche. Ich lasse Affekte nicht zu, aber für den Erfolg sei es notwendig, zügig vorzugehen. Es könne geschehen, dass ich dabei die Mitmenschen terrorisiere, vor allem Partner und Geliebte. Kein Wunder, dass keine Harmonie aufkommen konnte bisher. Gesundheitlich gehe es mir gut. Mars sei bei vielen Zwillingen Schuld an Zahnproblemen, doch mangle es mir nicht an Biss. Versteckte Eiterherde hätten sich bemerkbar gemacht. Wie wahr, dachte ich. Bei dieser Konstellation dürfe ich nicht auf Glücksfälle hoffen, alles müsse hart erarbeitet werden. Abends, so forderten die Sterne eindringlich, sei es ratsam, zu Hause zu bleiben. Wieso? Was würde mir sonst auf den Kopf fallen? Ich war die Gefahr im Verzug. Vielleicht ließ sich der eindringliche Rat aber auch anders verstehen. Die Botschaft, zu Hause zu bleiben, barg eine geheime Bedeutung für mich. Denn um zu Hause zu bleiben, musste man erst einmal zu Hause sein. Und wo war mein Zuhause? Ich war gut unterwegs und auf dem besten Weg dorthin. Ich wollte weiterlesen, das Ende erfahren, doch die Sitznachbarin schlug das Magazin zu.
    Ich erhaschte den Anblick der ersten Hochhäuser der Vorstadt. Ein Fahrrad war im sechsten Stock eines Hochhauses an der Außenseite des Balkons angekettet. Zeichen der Ankunft, Unterkunft, vielleicht des Aufstiegs. Da hatte sich jemand hochgeradelt. Ich stopfte meine Handtasche zwischen meine Hüfte und die Armlehne. Wenn man meine Größe nicht wahrnahm, meine Erscheinung als unbedrohlich

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