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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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empfand, weil man die Angst, die ich vor mir selbst hatte, nicht witterte, dann musste ich das Skalpell in meiner Tasche spüren. Woher hatte ich die Tasche, ja woher denn eigentlich? Kurz befiel mich das übliche Unbehagen, wenn ich Utensilien besaß, deren Anschaffung ich nicht mehr erinnerte. Ich hatte sie einfach. Da fiel mir auf, dass ich den Koffer nicht bei mir führte. Ich hatte vergessen, ihn am Flughafen in Brüssel vom Förderband zu holen.
    Die Sitznachbarin beugte sich herüber und streckte den Arm aus, um die Fensterscheibe mit ihrem Taschentuch zu putzen. Die auslaufenden Falten ihrer Achselhöhle zuckten in meinem Blickfeld auf. Ich wurde oft übersehen, weil man sich mir gegenüber überlegen fühlte, weil ich freundlich und schmächtig war, unbedrohlich wirkte. Zu dumm, dass ich meinen Koffer vergessen hatte, denn ich hatte hochhackige Schuhe drin. Ich öffnete die Handtasche. Das Skalpell steckte darin, ein kleiner Ritzer würde die Sitznachbarin für immer an mich erinnern. Ich nahm einen Spiegel heraus, griff nach dem Lippenstift und malte den Herzmund rot aus. Die Farbe profilierte mich.
    Meine Tasche sah billig aus, aber das Lippenrot war wie neu. Der Mann zum Beispiel, der auf der anderen Seite des Ganges saß, hob sein angewinkeltes rechtes Bein und legte es so auf den linken Oberschenkel, dass die schmutzige Schuhsohle zu mir herschaute. Als würde er mir die Zunge zeigen, weil meine Handtasche so billig ausschaute, dass er glaubte, ich selbst wäre so billig, dass man mir gegenüber keine Manieren zu beherzigen hätte. Wie kam ich dazu, mir eine Schuhsohle anschauen zu müssen, und ausgerechnet seine? Der Anblick seiner gerillten Schuhsohle war eine Zumutung, nicht umsonst verlangt die gute Sitte im buddhistischen Tempel von den Besuchern, die Füße nicht dem Buddha entgegenzustrecken, sondern auf ihnen zu sitzen. Die Schuhsohle schien immer größer zu werden. Sie wuchs an mich heran. Als deutete sie mir an, mich in sich nähernder Zukunft zu zertreten.
    Ich hörte es knirschen wie beim Gehen über Kies. Das Schmatzen und Kneten des Kaugummis in meinem Mund ergab einen regelmäßigen Rhythmus. Ich stellte meine Tasche auf das Aufklapptischchen und verstellte mir so den Blick auf den Schuhsohlenträger. Dann befühlte ich das Messer. Plötzlich regte sich die Sitznachbarin und meldete: „I have been falling asleep.“
    Ich runzelte die Stirn, überlegte, wieso diese Dame die andauernde Zeit für ein bereits vergangenes Ereignis verwendete. Dann schaute ich aus Verlegenheit auf meine Tasche, entnahm ein Taschentuch und schnäuzte mich. Die Sitznachbarin ließ mich nicht mehr aus den Augen, riss die Lider auf und fragte, ob es mir gut gehe. Jetzt schauten auch die schönen Augen des Schuhsohlenzeigers herüber und der erschreckte Blick wirkte wie aufgesetzt. Seine Augen trübten sich zu grünen Tümpeln. Da spürte ich es tropfen. Eine dicke Perle Blut schwoll in meiner Nase, platzte an den Rändern der Nasenlöcher und ergoss sich platzend über das Philtrum. Ich hatte immer wieder Nasenbluten, die Gefäße hielten den Beschleunigungsdruck, mit dem ich durch das Hügelland auf Paris zufegte, nicht aus.
    Jeder Mensch besitzt etwas Schönes an sich. In meinem Fall war es das Blut. Die Sitznachbarin kreischte. Eine weitere Passagierin wandte sich um und ich fand sie sehr schön, die Wölbung des Jochbeins unter weißer Haut, der Schwung im Gesicht sah gezeichnet aus. Die Dame im Kostüm, die von der Hüfte aufwärts ein filigranes Skelett besaß, als wäre es ein Korsett aus Fischbein und geschnürt gewesen, hob das leider dicke Gesäß vom Sitz und trug sich auf ihren Beinen heran. In meinem Rachen floss das Blut ab und sammelte sich im Schlund. Ich schluckte Blut, während ich die Schönheit der Farbe meines Blutes mitschluckte. Die Dame im Kostüm reichte mir Taschentücher, die Sitznachbarin wollte, dass ich den Kopf nicht zurücklegte, sondern nach vorne beugte. Nasenblut sollte man nicht schlucken, aber sollte ich mich beflecken? Das Gewicht meines Gesichtsfleisches lag flach, beugte ich mich vor, zog es sich dem Erdmittelpunkt zu. Der Mann mit den profilierten Schuhsohlen war Arzt. Er legte seine Hand in meinen Nacken. Dann kam das Blackout.
    Als ich aufwachte, saß der Arzt neben mir und sagte, er würde bei mir bleiben, bis mir wohler sei. Ich warf einen Blick auf meinen Schoß. Ich war sittsam auf eine Wartebank in der Öffentlichkeit gebettet. Ich stellte fest, mir sei wohl. Er

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